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Das rationale Tier

Publiziert am 12. Mai 2022 von Matthias Zehnder

Ob Tiere ein Bewusstsein haben und ob sie denken können, ob sie also «rational» sind, das ist eine ebenso spannende, wie umstrittene Frage in der Biologie und in der vergleichenden Psychologie. Obwohl sich schon Charles Darwin mit der Frage beschäftigte, haben sich Biologen lange um Antworten gedrückt. Auch Forscher, die sich mit Menschenaffen, Delfinen oder Rabenvögeln beschäftigten und diesen Tieren Nachdenken über ihre Umwelt, ein Zeitgefühl, planendes Handeln und sogar die Herstellung von Werkzeugen zugestehen, wollten die Frage nicht beantworten, ob diese Tiere denken können und ob sie Bewusstsein haben. Laut Ludwig Huber hat das drei Gründe. Zum einen ist nicht klar, was das Bewusstsein genau ist. Selbst über das Bewusstsein des Menschen gibt es weit auseinandergehende Meinungen. Zum zweiten ist die wesentliche Eigenschaft des Bewusstseins seine Subjektivität: «Man selbst zu sein ist ein Gefühl; und niemand anders wird das je so direkt wissen wie man selbst.» Zum dritten gefährdet die Erkundung des Bewusstseins von Tieren natürlich die Sonderrolle des Menschen.

«Bücher über tierisches Denken gibt es viele, aber oft sind sie anekdotenhaft und oberflächlich», schreibt Huber. Das kann man von seinem Buch nicht sagen. Huber ist Professor und Leiter des interdisziplinären Messerli-Forschungsinstituts für Mensch-Tier-Beziehungen an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. Er leitet dort die von ihm gegründete Abteilung für Vergleichende Kognitionsforschung, deren Schwerpunkt auf der Erforschung der kognitiven und emotionalen Fähigkeiten von Tieren liegt. In diesem Buch breitet er sein ganzes Wissen und seine Überlegungen aus und kümmert sich um die wirklich heissen Fragen und ihre Beantwortung. Seine Antworten beruhen dabei auf solider wissenschaftlicher Erkenntnis.

Eine Kernhypothese ist dabei: Bewusstsein wäre nicht entstanden, wenn das Bewusstsein keine überlebensfördernden Funktionen hätte, wenn es also nichts zum Überleben einer Art beitragen würde. Neueste Forschungen deuten laut Huber darauf hin, dass die ursprüngliche Funktion von Bewusstsein das Ermöglichen von willentlichen Bewegungen ist. Damit kann ein Organismus seine Aufmerksamkeit besser ausrichten und sich auf genau das fokussieren, was für seine Fitness und das Überleben wichtig ist. «Mit dem Verfügen über Repräsentationen von Objekten und Ereignissen in der Welt, der Fähigkeit, Beziehungen zwischen verschiedenen Repräsentationen herzustellen (awareness), der Fähigkeit, sich auf eine davon auszurichten (intention), und der Fähigkeit zu planen, wie das von der Intention erfasste Ziel zu erreichen ist, würden manche Tiere einige der zentralen Funktionen von menschlichem Bewusstsein besitzen», schreibt Huber. Natürlich haben Menschen darüber hinaus noch weitere Fähigkeiten. Sie können zum Beispiel ihre eigenen bewussten Prozesse wahrnehmen, können über sich selbst nachdenken und diese Gedanken anderen mitteilen. 

In seinem Buch diskutiert Huber sorgfältig die grossen Fragen der vergleichenden Kognitionsforschung anhand von guten Beispielen und beantwortet die Fragen dann mit der gebotenen Vorsicht. Er gruppiert die Fragen nach drei grossen Themen mit jeweils zwei Bereichen: die kreative Herstellung von Werkzeugen und Formen von Kausalverständnis, das Ausdehnen des Denkens in die Zukunft in Form von Vorbereitung und Planung und in die Vergangenheit im Sinne eines episodischen Gedächtnisses sowie das Nachdenken über den eigenen Wissensstand und im Sinne eines Perspektivenwechsels über den Wissensstand anderer. Huber zeigt jeweils sorgfältig, was  die einzelne Fähigkeit genau meint und erläutert dann anhand vieler Beispiele, wie sie in der Natur anzutreffen ist. Das ist nicht nur erhellend, sondern im Einzelnen auch wirklich spannend und gibt im Wortsinn zu Denken. Gleichzeitig lernen wie dabei viel über unser eigenes Denken – weil wir darin mit einem Denken konfrontiert werden, das ganz anders funktioniert als das unsere.

Ludwig Huber: Das rationale Tier. Eine kognitionsbiologische Spurensuche. Suhrkamp, 671 Seiten, 48.50 Franken; ISBN 978-3-518-58771-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783518587713

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