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Das Ende des Wokeismus

Publiziert am 25. April 2024 von Matthias Zehnder

Auf Deutsch heisst «woke» schlicht «Wachet auf!» oder «Erwache!». Entstanden ist der Begriff in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die afroamerikanischen Bevölkerung vor allem im Süden der USA war extremen Diskriminierungen ausgesetzt, auch und gerade durch Polizei und Justiz. Die Devise «stay woke» bedeutete wörtlich, wachsam zu bleiben gegenüber rassistischer Gewalt. Diese scharfe Bedeutung weitete sich in den letzten Jahren aus. Es ging immer stärker darum, sich gesellschaftlicher Missstände bewusst zu werden. Black Lives Matter hat «woke» wieder aufgegriffen. Der politischen Rechten ist es dabei gelungen, den Begriff ins Negative zu wenden. Die politische Linke hat darauf umgekehrt mit einer Moralisieren des «woke»-Begriffs reagiert. In seinem Buch analysiert Andreas Brenner, Philosophieprofessor in Basel, diesen breit gefassten heutigen Wokeismus mit den analytischen Instrumenten eines Philosophen. Er sagt, die Bewegung habe sich vom antirassistischen Kernanliegen des Kampfes gegen Entrechtung und Unterdrückung entfernt und sei zu einer «Diesseitsreligion» geworden. Der philosophische Kern bildet dabei Schopenhauers Maxime «verletze niemanden». In Umkehrung des Antirassismus beruft sich der Wokeismus vor allem auf Identität und Herkunft. Weisse Europäer sind privilegiert und per se schuldig, die inliegende Bevölkerung Afrikas oder Südamerikas ist per se Opfer und muss geschützt werden. Dabei genügt es nicht, dass die «weissen Täter» ihr Verhalten ändern. Sie müssen sich selbst ändern. In sorgfältiger Analyse zeigt Andreas Brenner schrittweise, dass der moderne Wokeismus letztlich auf die Identität der Menschen abzielt – und damit den Antirassismus pervertiert.

Statt sich für konkrete Anliegen einzusetzen, habe sich der Wokeismus «auf einen Sprachpurismus fokussiert, dem eine Änderung der realen Verhältnisse ziemlich egal ist. Fast hat man den Eindruck, dass es den Frontleuten der Bewegung um eine Änderung der gelebten Wirklichkeit gar nicht geht.» Es gehe nicht mehr um Realpolitik, sondern und Sprachpolitik, etwa um eine gendersensible Sprache, ohne tarifvertragliche oder gesetzliche Geschlechterdiskriminierungen anzugehen, um eine woke Klimasprache etabliert, statt Alternativen zu einer auf grenzenloses Wachstum ausgerichteten Wirtschaft zu diskutieren, und um eine Cancle-Culture in der Kultur, weil es angeblich die Stellung indigener Völker unterminiere, ohne sich auf einen Kampf gegen die globalisierte Weltwirtschaft einzulassen.

Diesen sprachkämpferischen Einsatz der Wokeisten bis zur Cancel-Kultur analysiert Brenner in seinem Buch mit den Instrumenten eines Philosophen. Er sagt: «Für das moralistische Sprachprojekt Wokeismus war Moral von jeher wichtiger als Ethik und das Reden wichtiger als sein Inhalt.» Es sei deshalb «unvermeidbar, dass Antirassismus, Geschlechtergerechtigkeit, Klima und kulturelle Identität schliesslich auf den Status von Chiffren reduziert werden».

Es war ein Medienskandal weit über die Schweiz hinaus, als die Berner Reggae-Band »Lauwarm» ihren Auftritt nach kurzer Zeit beenden musste. Der Grund für den Abbruch: Einige Zuhörer fühlten sich verletzt, weil die Reggae spielenden Musiker sich durch diese Musik eine fremde und ehemals unterdrückte Kultur angeeignet hätten. Dadurch und weil sie Dreadlocks trugen, hätten die Musiker die historisch unterdrückte jamaikanische Bevölkerung kulturell ausgebeutet. Andreas Brenner analysiert diesen und weitere Vorfälle ähnlicher Art und kommt zum Schluss, dass der aktuelle Wokeismus in seinem antikolonialistischen Eifer selber zum Rassismus pervertiert. Denn einzelne Identitäten oder Herkünfte gelten von vornherein als schuldig. Wer «europäisch», «weiss» und «Mann» ist, zählt von vornherein aufgrund einer kolonialen Erbschuld zum Täterkollektiv. Brenner schreibt: «Das erste Kriterium zur Beurteilung eines Menschen ist nicht länger seine individuelle Tat, sondern seine Herkunft.» Und weil die einen, wie die weissen Berner Musiker, kraft ihrer Herkunft aggressiv und böse und die anderen, wie die Jamaikaner, kraft ihrer Herkunft unfähig zur Selbstbehauptung und Selbstverteidigung sind, «gilt es dem Wokeismus nicht als rassistisch, sondern als fürsorglich, wenn Menschen einer bestimmten Hautfarbe ausgeschlossen werden.»

Woher kommt diese übertriebene Fürsorglichkeit? Brenner führt sie auf Arthur Schopenhauer zurück. Er sagt, Wokeismus sei «eigentlich ein Schopenhauerismus». Der Kern der Ethik von Schopenhauer war die Maxime des Neminem Laede – verletze niemanden. Diese Maxime erhebt der Wokeismus zum absoluten Prinzip. Dabei muss in der neuen Cancel-Kultur «der Verletze seine Verletzung nicht nachweisen, es genügt, dass er sich verletzt fühlt. Das Gefühl seiner Verletzung, beispielsweise seiner Ehrabschneidung, rechtfertigt alles», aber natürlich nur aus Perspektive des Verletzten. Die moderne Cancel-Kultur sei eine «Einbahnstrasse: Derjenige, der einer Verletzung bezichtigt wird, darf vernichtet werden und dies total.»

Verletze niemanden – das gilt auch für die diversen sexuellen Identitäten, LGBTQIA+. «Selbstverständlich könnte man sich die ganze Buchstaben-Litanei sparen, indem man dem doch bereits lange etablierten Grundsatz folgt, Menschen in ihrer Identität zu achten, was ja auch ohne ihre identitäre Definition möglich ist.»

Für Andreas Brenner ist der Wokeismus keine Philosophie, sondern hat Züge einer Religion. Er sei ein «grosses Schuldsystem» mit Ähnlichkeit zum Christentum. Das ist kein Zufall, «ist doch der Wokeismus ein Produkt der christlich geprägten US-amerikanischen Kultur.» Leitend sei dabei das

«Schuldnarrativ der Erbsündenlehre, an dem sich die Gläubigen zeitlebens abzuarbeiten haben.» Anders als das Christentum kennt der Wokeismus aber kein Verständnis und kein Vergeben: «solche Milde bleibt nur den Religionen des Jenseitsglaubens vorbehalten.» Ganz besonders gilt das für Menschen, die Privilegien geniessen. Deren Schuld ist kaum noch zu tilgen. «Trotz oder gerade angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Lage müssen die Schuldigen Schuldbewusstsein zeigen, einsehen und öffentlich (d.h. medienwirksam) bekennen, dass sie schuld sind.» Denn die Privilegierten sind mehrfach schuldig: «Zum einen sind sie als Nutzniesser ihrer Privilegien schuldig und zum anderen sind sie daran schuldig, dass andere keine Privilegien geniessen.» Im schablonenhaften Denken des Wokeismus werde man als Privilegierter geboren und bleibe sein Leben lang privilegiert. «In ihrem Denken in Schablonen machen die Exponenten des Wokeismus zuweilen den Eindruck, als hätten sie von einem Sturm auf die Bastille und der Geburt der modernen Gesellschaft nie gehört», meint Andreas Brenner.

Stellt sich die Frage, was der Wokeismus als Diesseitsreligion jenen zu bieten hat, die kraft ihrer Identität unerlösbar mit Schuld beladen sind. Eine Erlösung im Jenseits scheidet aus der Perspektive einer Diesseitsreligion natürlich aus; aber auch eine Erlösung im Diesseits scheidet aus, «weil die Schuld aufgrund ihrer Unendlichkeit nie abgetragen werden kann.» Damit die schuldbeladenen Privilegierten sich nicht in Verzweiflung stürzen, stellt ihnen der Wokeismus in Aussicht, dass sie, solange sie sich Mühe geben, nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Das klingt reichlich zynisch. Brenner betont deshalb, dass die Bezeichnung des Wokeismus als Diesseitsreligion «lediglich nach der Beobachtung seiner Funktionsweise, seines Selbstverständnisses und dem Verhalten

seiner Follower» erfolge. Wie andere Religionen auch, so verfüge auch der Wokeismus über eine «weitgehend hermetische Lehre, die einen Daseinszweck, ein Ziel, ein geschlossenes Wertesystem samt Sanktionssystem» habe.

Da der Wokeismus nicht bloss eine neue Moral, sondern eben auch eine Religion ist, genügt es nicht, das inkriminierte Verhalten zu ändern. Damit hätte eine säkulare Moral ihr Ziel erreicht; nicht aber eine Religion. «Sie gibt sich nicht mit der Verhaltensänderung zufrieden, sie will, dass man sich ändert.» Womit wir wieder bei der Identität angelangt sind. Ein spannendes, wohldurchdachtes Buch.

Andreas Brenner: Das Ende des Wokeismus. Königshausen & Neumann, 108 Seiten, 23.50 Franken; ISBN 978-3-8260-8740-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783826087400

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