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Das Ende des Individuums

Publiziert am 21. Dezember 2021 von Matthias Zehnder

Um herauszufinden, wie es um die Künstliche Intelligenz steht, begibt sich Gaspard Koenig auf eine Weltreise. In mehr als 120 Gesprächen macht er sich auf die Suche nach Antworten. Er redet mit Wissenschaftlern, Politikern, Unternehmern, Investoren, Aktivisten und sogar mit einem Zauberer und sucht Antworten auf die Frage, wie es um unsere Zukunft steht, wenn die Intelligenz künstlich wird. Er macht sich mit anderen Worten auf, um den Trick hinter der Magie zu lüften, welche die KI bis heute versprüht. Herausgekommen ist eine spannende, ja faszinierende Materialsammlung, die aber ihrerseits mehr kritische Fragen aufwirft, als Antworten bringt. Den positiven, ja euphorischen Antworten eines Yuval Harari setzt Philosoph Gaspard Koenig damit die philosophische Frage entgegen. Wer die definitive Antwort sucht, wird damit schlecht bedient, das Buch ist aber ein anregender Spaziergang rund um die Welt der KI. Zentrales Thema ist dabei nicht nur die Intelligenz (des Menschen wie der Maschine), sondern auch der freie Willen und die Werte der Aufklärung.

Aber warum hat sich Gaspard Koenig (vor der Pandemie) überhaupt auf eine Reise gemacht und mit den Forschern, Unternehmern und Investoren nicht einfach gezoomt oder gechattet? «Ich wollte ihnen dort begegnen, wo sie leben und arbeiten, in ihrem natürlichen Lebensraum aus Computern und verstopften Strassen», schreibt Koenig. Er ist deshalb westwärts einmal um die Welt gereist: Von Cambridge und Oxford über Boston, New York, Washington, San Francisco und Los Angeles nach Shanghai und Peking, dann zurück nach Europa nach Tel Aviv, Kopenhagen und schliesslich Paris. Nun ist Gaspard Koenig kein KI-Spezialist, kein Informatiker, kein Naturwissenschaftler. Das führt zuweilen zu lustigen Reaktionen, wenn er etwa die mit für ihn unverständlichen Codes übersäten Bildschirme einer Programmiererin mit der Ikonostase vergleicht, dem Heiligtum in Orthodoxen Kirchen, das man nur unter Gefahren durchschreiten kann. Oder die Begegnung mit Aurélie Jean, eine junge Informatikerin und Absolventin des Massachusetts Institute of Technology (MIT), die versucht, Gaspard Koenig in die Programmiersprache Python einzuführen. «Was mich schliesslich traumatisierte», schreibt Koenig, «war der Anblick von Aurélies Bildschirm, wo es nicht nur Ordner und Dateien gab, sondern auch ein einfaches schwarzes Fenster voll kabbalistischer Zeichen.» Die Informatikerin klickt nicht einfach auf ihrem Bildschirm herum. «Sie arbeitet unter der Motorhaube der Maschine, in grösserer Nähe zu ihren grundlegenden Funktionen. Sie gibt die Befehle direkt ein.» Jeder Informatiker kennt diese Arbeitsweise: Es ist nun mal schneller und einfacher, einen Befehl zu erteilen, als mit einer Maus auf dem Bildschirm herumzufummeln. «Wir Uneingeweihten sind demgegenüber wie Kinder, die Kuchenstücke hinzufügen und wegnehmen müssen, um einfache mathematische Aufgaben zu lösen: Wir brauchen eine bildliche Darstellung. Aurélie hingegen schreibt unmittelbar in die Kommandozeile. Sie kann auf eine ganze symbolische Ebene, die graphische Schnittstelle, verzichten». Das ist gut beschrieben und nachvollziehbar – es ist aber auch etwas naiv. Denn es ist die Reaktion jedes Laien auf die Arbeitsweise eines Profis, ganz egal, ob er Pädiater, Pianist, Pfarrer oder  Programmierer ist. Es sind aber natürlich genau solche Stellen, die das Buch von Koenig nachvollziehbar und ihn als Autor sympathisch machen.

Köstlich ist auch, wie Koenig die Welt der Programmierer in den USA beschriebt. «Die Etikette im Silicon Valley steht der Etikette an den Höfen von einst um nichts nach. Die Coolness hat ihre eigenen Codes hervorgebracht, an die man sich unbedingt zu halten hat», meint der französische Philosoph. Das gilt auch und gerade für E-Mails. «Das Ausrufezeichen oder den Smiley zu vergessen, lässt auf einen unverzeihlichen Mangel an Enthusiasmus schliessen. Mal muss man sich ernst geben, mal zu Scherzen aufgelegt, man muss seinen Eifer bezeugen und seine Hingabe zeigen, und alles das in drei bullet-points.» Wie einst am Hof gilt es, eine Reihe von Vorzimmer zu überwinden, um zur Koryphäe vorzudringen: «Auch in der Welt des Google Calendar gibt es noch Armeen von Sekretärinnen und Sekretären, die die Bettler aussortieren.»

Anders als der israelische Historiker Yuval Noah Harari stimmt Koenig nicht in die Huldigungshymnen an die Künstliche Intelligenz ein und er glaubt auch nicht, dass der Mensch friedlich mit der Technik zu einem höheren Wesen verschmelzen werde. Ironisch schreibt Koenig: «Die KI scheint auf dem natürlichen, unwiderstehlichen Pfad der Innovation fortzuschreiten.» Die Öffentlichkeit ergötzt sich daran, amüsiert sich – und gewöhnt sich schliesslich an eine KI, die sie damit sehr schnell aus den Augen verliert. «TED Talks, in denen uns die Propheten 2.0 erklären, warum wir zu nichts mehr nütze sind und wie sehr wir uns im Laufe unserer hundertjährigen Leben langweilen werden, unterhalten uns längst nicht mehr: schon bekannt. Die Gesellschaft ist dabei, die KI zu schlucken.» Die Menschen hätten «die Magie hingenommen. Man muss schon ein Griesgram und Haarspalter sein, wenn man den Zaubertrick um jeden Preis verstehen will.» Und genau so ein «Griesgram und Haarspalter» will Gaspard Koenig sein. Das Resultat ist allerdings alles andere als ein griesgrämiges Buch: Seine Reise durch die Welt der KI ist spannend geschrieben, regt genauso zum Nachdenken über die Technik wie über die Technologen an und löst eine ganze Reihe neuer Fragen aus. So soll Philosophie sein.

Gaspard Kœnig: Das Ende des Individuums. Reise eines Philosophen in die Welt der Künstlichen Intelligenz. Galiani Berlin, 400 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-86971-233-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783869712338

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