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Das Echo der Zeit

Publiziert am 13. Juni 2024 von Matthias Zehnder

Nein, mit der Nachrichtensendung «Echo der Zeit» von Radio SRF hat dieses Buch nichts zu tun: Gemeint ist damit die Musik, die sich als Echo des Zeitgeschehens hören lässt. Thema des Buchs ist die Rolle, welche die Musik Zeugin der Geschichte einnimmt. Konkret geht es um Musik als Überbringerin der Erinnerung an den Holocaust. Es geht um die Musik von vier Komponisten des 20. Jahrhunderts: Arnold Schönberg, Richard Strauss, Benjamin Britten und Dmitri Schostakowitsch. «Während der Kriegsjahre standen diese vier an völlig verschiedenen Fenstern und blickten auf ein und dieselbe Katastrophe», schreibt Jeremy Eichler. Die vier Komponisten haben je ein tönendes Mahnmal geschaffen. Die Werke gehören, so Eichler, an die Seite von Picassos Gemälde «Guernica» zu den «wichtigsten moralischen und ästhetischen Stellungnahmen des 20. Jahrhunderts». Es sind dies «A Survivor from Warsaw» von Arnold Schönberg, «Metamorphosen» von Richard Strauss, die «Babi Jar»-Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch und das «War Requiem» von Benjamin Britten.

Jeremy Eichler erforscht anhand der vier Werke die Kriegsvergangenheit. Er greift dafür zurück auf das Leben der Komponisten und die Sozial- und Kulturgeschichte der Musik. Jeremy Eichler arbeitet mit den Ohren eines Musikkritikers und den Werkzeugen eines Historikers. Zudem ist er an viele der Orte gereist, die für die Geschichte und die beschriebene Musik wichtig sind. Dazu gehören der Schauplatz des Babyn-Jar-Massakers bei Kiew, die Ruine der Kathedrale von Coventry, das stattliche Landhaus von Richard Strauss im südlichen Bayern und der zerfurchte, verwitterte Stumpf der Goethe-Eiche in Buchenwald.

Seine zentrale Frage lautet: Wie können wir in einer Welt, in der Werke der Kunst und Musik oft entweder marginalisiert oder popularisiert werden, diese Werke wieder so ernsthaft hören, dass uns ihre historische Bedeutsamkeit bewusst wird? Wie können wir sie so hören, dass wir uns daran erinnern, was sie beklagen? Wie können die Werke zum Tor werden zum Mitgefühl mit den Opfern der Barbarei im Zweiten Weltkrieg?

Theodor W. Adorno, der deutsch-jüdische Philosoph, Kulturkritiker und Musikweise, sagte, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch. Ist es also barbarisch, dieser Musk zuzuhören? Adorno selbst schrieb 1962: «Der Begriff einer nach Auschwitz auferstandenen Kultur ist scheinhaft und widersinnig, und dafür hat jedes Gebilde, das überhaupt noch entsteht, den bitteren Preis zu bezahlen. Weil jedoch die Welt den eigenen Untergang überlebt hat, bedarf sie gleichwohl der Kunst als ihrer bewusstlosen Geschichtsschreibung.» Das Thema dieses Buchs ist die Rolle, welche die Musik bei dieser «bewusstlosen Geschichtsschreibung« einnimmt, es ist Musik als Zeugin der Geschichte und Überbringerin der Erinnerung für eine Welt nach dem Holocaust.

Allerdings leben wir heute in einer Welt voller digitaler Ablenkungen, in einer Welt der geistigen Eiligkeit. Wie können wir uns trotzdem auf die Musik einlassen und die Vergangenheit präsent werden lassen? Wie können wir die Musik als «Tor zum Mitgefühl mit denen, die vor uns kamen» einsetzen, als «ein Mittel zum Freilegen, Wiederherstellen und ein Stück weit auch Einlösen alter Hoffnungen und Gebete, der Träume der Aufklärung, die allein dadurch, dass sie unter Trümmern verschüttet wurden, noch lange nicht wertlos sind?», fragt sich Eichler. Er betätigt sich in dem Buch als «Kulturarchäologe» und legt Schicht um Schicht die Vergangenheit frei. Sein Buch ist eine Hilfe für das, was er «Deep Listening» nennt: «ein Zuhören im Wissen, dass die Musik ein Echo der Zeit darstellt. Deep Listening ist für das Gedächtnis der Musik, was eine Aufführung für eine Partitur ist: Ohne einen Musiker, der die Noten spielt, ist sie nichts als eine Ansammlung von Linien und Punkten, die stumm auf einem Blatt Papier stehen.»

Ohne Deep Listening wird Klassik zur blossen Entspannungsmusik. Mit seinem Buch ermöglicht es Eichler, genau hinzuhören und mit Hilfe der Musik die Erinnerungen zum Leben zu erwecken. Als Echo einer vergangenen Zeit. Die Musik zum Buch können Sie ohne Aufwand hören: Der Klett-Cotta-Verlag hat hier eine entsprechende Playlist bereitgestellt: https://open.spotify.com/playlist/7as7xOcR6V7benr3thXwEO

Jeremy Eichler: Das Echo der Zeit. Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege. Klett-Cotta, 464 Seiten, 44.50 Franken; ISBN 978-3-608-96586-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608965865

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