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Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien
Wo von Verschwörungstheorien die Rede ist, ist Adolf Hitler meist nicht weit: Als Schlüsselaspekt von Verschwörungstheorien gilt weithin eine starke Neigung, die Welt in Gut und Böse aufzuteilen, und wer könnte böser sein als Hitler? In diesem Buch untersucht der britische Historiker Richard J. Evans fünf Verschwörungstheorien rund um das Dritte Reich. Konkret geht es um die «Protokolle der Weisen von Zion», um die Dolchstosslegende, um den Reichstagsbrand, um den Flug (oder die Flucht) von Rudolf Hess, Hitlers Stellvertreter, nach England und dem hartnäckigen Gerücht, Hitler sei 1945 aus dem Bunker der Reichskanzlei entkommen und habe das Ende seiner Tage in Argentinien verbracht. Zwei Erkenntnisse stehen dabei im Zentrum: Hitler selbst war kein Verschwörungstheoretiker. Er hat die Massen ganz ohne Verschwörung gegen die Juden aufgehetzt – die «Protokolle» waren damals so bekannt, dass er sie einfach voraussetzen konnte. Und: Ganz offensichtlich sind Verschwörungstheorien lange vor dem Internet entstanden.
Im nationalsozialistischen Deutschland stiess der von Joseph Goebbels beherrschte riesige staatliche Propagandaapparat riesige Mengen von Lügen aus. «Hitler versuchte ständig, die Menschen innerhalb und ausserhalb Deutschlands über seine wirklichen Ziele zu täuschen, indem er Grossbritannien, Frankreich und andere europäische Länder selbst dann noch seiner friedlichen Absichten versicherte, als er Deutschland wiederaufrüstete und als internationaler Aggressor auftrat», schreibt Evans. Aber: Nur ein kleiner Teil dieser Propaganda bediente sich Verschwörungstheorien. Hitler und seine Getreuen belügten und täuschten die Welt «nur», sie selbst bildeten keine Verschwörung. Evans sieht da einen scharfen Gegensatz zu Stalin, «der überall um sich herum Verschwörungen sah und unter dem erfundenen Vorwurf, sie hätten gegen das Sowjetregime konspiriert, eine lange Reihe von Säuberungen und Schauprozessen gegen viele seiner Untergebenen in Gang setzte.»
Trotzdem gehörten Verschwörungen zur Welt der Nationalsozialisten. In diesem Buch geht es darum, wie die paranoide Vorstellungskraft mit Hitler und den Nationalsozialisten verbunden ist. Untersucht werden fünf vermeintliche Verschwörungen. Im Mittelpunkt der ersten dieser angeblichen Verschwörungen steht die berüchtigte gefälschte antisemitische Hetzschrift «Die Protokolle der Weisen von Zion». Evans zeigt, dass Hitler das Pamphlet kaum brauchte, um seinen Völkermord in Gang zu bringen. Die Protokolle gelten weithin als der wichtigste verschwörungstheoretische Text des Antisemitismus.
Die Dolchstosslegende ist jene Theorie, derzufolge die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg das Ergebnis eines Komplotts war, das die deutschen Streitkräfte unterminierte, indem es an der Heimatfront eine Revolution plante und durchführte. Von der Dolchstosslegende gibt es drei Varianten. In der ersten wird ganz allgemein behauptet, Deutschland habe den Krieg verloren, weil eine sich stetig verschlechternde Versorgungslage zu einem Verlust der Moral an der Heimatfront geführt habe. Dieser Zusammenbruch der Moral in der Heimat sei wie ein Dolchstoss in den Rücken des Heeres gewesen und habe es ihm unmöglich gemacht, den Kampf gegen einen besser ausgerüsteten Feind fortzuführen. Die zweite Variante enthält den konkreteren Vorwurf, die Sozialdemokraten hätten die Moral der Truppe untergraben, indem sie versuchten, eine demokratische Revolution auszulösen. Die dritte Variante betrachtete Sozialismus und Revolution als Formen jüdischer Subversion. Allen drei Theorien ist gemeinsam, dass sie behaupten, die deutsche Wehrmacht hätte ohne «Dolchstoss» in den Rücken den Ersten Weltkrieg gewinnen können. Erschreckend sind die Hinweise von Evans, dass die Dolchstosslegende in den letzten Jahren wieder Aufwind erhalten hat.
Bei der dritten Verschwörungstheorie, mit der sich Evans beschäftigt, handelt es sich um den Reichstagsbrand. In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933, wenige Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, brannte der Reichstag ab. Die Brandstiftung bot Hitlers Regierung den Vorwand, bürgerliche Freiheiten aufzuheben – der erste entscheidende Schritt auf dem Weg in die NS-Diktatur. Hitler behauptete, der Brand sei zur Vorbereitung eines Staatsstreichs von den Kommunisten gelegt worden. Diese Behauptung ist leicht zu widerlegen. Nicht einmal die Richter des Dritten Reichs waren in der Lage, eine derartige Verschwörungstheorie zu bestätigen. Die Nationalsozialisten schlugen politisches Kapital aus der Brandstiftung. Die Kommunisten behaupteten ihrerseits umgehend, der Brand sei von den Nationalsozialisten selbst geplant und gelegt worden, um einen Vorwand zu haben, gegen Kommunisten und Juden vorzugehen. «Wir haben es also mit einem historischen Ereignis zu tun, das zum Gegenstand zweier entgegengesetzter Verschwörungstheorien wurde. Im Gegensatz zur nationalsozialistischen Version ist die kommunistische immer wieder vertreten worden, obwohl seit den 1960er Jahren vorgelegte konkrete Beweise stichhaltig zeigen, dass der Brand das Werk eines Einzelnen war, des jungen Holländers Marinus van der Lubbe», schreibt Evans.
Kontrovers diskutiert wird auch der überraschende, unangekündigte Flug des stellvertretenden Führers der NSDAP, Rudolf Hess, am 10. Mai 1941 nach Schottland. Viele Historiker sehen in dem Flug bis heute ein ungelöstes Rätsel. Reiste Hess im Auftrag von Hitler nach Grossbritannien? Gab es eine Verschwörung Churchills und der Kriegspartei in Whitehall mit dem Ziel, das Angebot zurückzuweisen und die Wahrheit über die Mission von Hess zu verheimlichen? Ist Hess deshalb 1987 tot im Hof des Kriegsverbrechergefängnisses in Berlin-Spandau aufgefunden worden? Sollte verhindert werden, dass die Wahrheit ans Licht kommt? Die Wahrheit ist vermutlich viel banaler: Hess hatte sich wohl schlicht überschätzt: «In einer Art Grössenwahn, der sich durch jahrelange Auftritte vor begeisterten Anhängern in ihm entwickelt hatte, hatte er seinen eigenen Stellenwert masslos überschätzt und die Bedeutung seiner Aktion auf geradezu groteske Weise falsch beurteilt», schreibt Evans.
Die fünfte Theorie, mit der sich der britische Historiker beschäftigt, ist so etwas wie die Mutter aller Verschwörungstheorien im Internet: das Gerücht, Hitler sei 1945 aus dem Bunker der Reichskanzlei entkommen und habe das Ende seiner Tage in Argentinien verbracht. Evans schreibt: «Wie viele andere der in diesem Buch behandelten Phantasien hat die Behauptung, Hitler sei in den 1950er Jahren und sogar noch darüber hinaus am Leben gewesen, in jüngster Zeit eine zunehmende mediale Wiederauferstehung erlebt. Von allen in diesem Buch untersuchten Ereignisverschwörungstheorien ist es zweifellos die wildeste und phantastischste, aber ihre Transformation im Zeitalter von Internet und sozialen Medien kann uns viel darüber sagen, wie Verschwörungstheorien funktionieren und welche Art von Menschen sie verbreiten und an sie glauben.» Fürwahr.
Evans zeigt in seinem Buch. Dass die bewusst Nutzung von Phantasien und Fiktionen, Erdichtungen und Fälschungen, Mythen und Lügen zu politischen Zwecken keine Erfindung des 21. Jahrhunderts ist: «Manche jener, die Verschwörungstheorien über Hitler oder die Juden oder die NSDAP verbreitet haben, glaubten offensichtlich an das, was sie sagten. Andere haben ebenso offensichtlich Geschichten verwendet, von denen sie wussten, dass sie falsch waren.» Besonders bedenklich waren U(und sind) Haltungen vom Muster: es spiele keine Rolle, ob die Geschichten wahr oder falsch seien; es komme lediglich darauf an, dass sie (selbst wenn sie wie die Protokolle auf eindeutig gefälschten oder verfälschten Beweisen beruhten) eine grundlegende «Wahrheit» enthüllten und daher in einem tieferen Sinn wahr seien, als es das bloss Empirische sein könnte. Solche Argumente, schreibt Evans, «stellen das Wesen der Wahrheit selbst zur Debatte. Sie stellen eine Herausforderung dar, der jene, die an die Notwendigkeit einer sorgfältigen, unparteilichen Untersuchung von Beweisen und vertretbarer, nachhaltiger Schlussfolgerungen glauben, sich häufig nicht sofort gewachsen zeigen.» Das Buch behandelt zwar historische Ereignisse und Verschwörungstheorien. Die Erkenntnisse lassen sich aber (nur zu gut) auch auf die Gegenwart anwenden, auf das Zeitalter von «Postwahrheit» und «alternativen Fakten».
Richard J. Evans: Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien. Wer sie in die Welt gesetzt hat und wem sie nutzen – von den «Protokollen der Weisen von Zion» bis zu Hitlers Flucht aus dem Bunker. DVA, 368 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-421-04867-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783421048677
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