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Das Café der trunkenen Philosophen

Publiziert am 2. Februar 2023 von Matthias Zehnder

Heute zieren sie alle Bücherrücken, ja sie sind Grundpfeiler so mancher privaten Bibliothek: Paul Tillich und Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Norbert Elias, Hannah Arendt und Günther Anders, Erich Fromm und Gisela Freund. In den Jahren der zu Ende gehenden Weimarer Republik sind sie alle als Studenten, angehende Dozenten und Professoren in Frankfurt aufeinandergestossen. Miteinander und vor allem gegeneinander haben sie ihre Theorien erprobt und entwickelt, ihre Denkweise geschärft, Begriffe geprägt und sich dabei zuweilen auch verliebt. Ort der Handlung war nicht etwa die Universität Frankfurt, sondern das Café Laumer an der Bockenheimer Landstrasse. In seinem Buch über die Denker der Frankfurter Theorie schildert Wolfgang Martynkewicz, wie die Philosophen im Café sich gegenseitig Denken lehrten. Meist sammelten sie sich in den Hegel-Vorlesungen von Paul Tillich. Dessen Assistent Theodor W. Adorno, der sich damals noch Theodor Wiesengrund nannte, war für die Arbeit mit den Studenten zuständig. Wichtig waren vor allem die zwanglosen «Nachseminare», die meistens im Café Laumer stattfanden. Hier trafen sich Intellektuelle, die aus gegensätzlichen Denktraditionen kamen, sich unterschiedlichen Weltanschauungen zugehörig fühlten und nach neuen Wegen in der Wissenschaft und im gesellschaftlichen Leben suchten. Nichts sollte so bleiben, wie es war, alles sollte anders werden – zumindest darin war man sich einig.

Und alles wurde anders. Nur nicht so, wie die Denker sich das dachten. Anfang der 30er-Jahre setzte der Aufschwung der NSDAP ein. Norbert Elias schrieb später, dass sie Politik nur ganz am Rande wahrgenommen hätten. Und plötzlich kam das Jahr 1933, die Nationalsozialisten kamen an die Macht, der Frankfurter Kreis wurde aufgebrochen. Das Buch begleitet die Philosophen ins erzwungene Exil, berichtet, wie sie trotz Krieg und Katastrophen zueinander Kontakt hielten. Schliesslich erzählt es vom Leben nach dem Krieg, wie sich die Verbindungen ab 1945 langsam auflösten und die Wege sich trennten. In der Emigration hatten sie ihre Stimme gefunden und ihre Schlüsselwerke publiziert. Horkheimer und Adorno realisierten in den Jahren 1939 bis 1944 in Los Angeles das grundlegende Buch der Kritischen Theorie, die «Dialektik der Aufklärung». Norbert Elias hatte schon 1939 sein wichtigstes Werk «Über den Prozess der Zivilisation» beendet. Karl Mannheim entwickelte die Vision einer «geplanten Demokratie», in der es um die Beherrschung «irrationaler Kräfte» und um eine Umformung des Menschen geht. Paul Tillich wurde im amerikanischen Exil zum Seelsorger und Therapeuten der Gesellschaft.  Hannah Arendt schloss in New York ihre Rahel-Varnhagen-Studie über die «Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin» ab und konnte 1945 die Arbeit an ihrem Hauptwerk beginnen: «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft».

Bis heute haben die Intellektuellen, die sich gegenseitig in einem Café in Frankfurt formten und forderten, uns viel zu sagen. «Sie haben Schulen begründet, die nicht nur das Erbe verwalten und pflegen, sondern das Projekt anpassen und weiterentwickeln», schreibt Wolfgang Martynkewicz. In seinem Buch zeigt er, wie stark sich die Einzelpersonen gegenseitig beeinflusst haben – auch und gerade im Widerspruch. Er zeigt, dass sie mehr miteinander zu tun hatten und haben, als man gemeinhin annimmt und sie selbst zuzugeben bereit waren. Schuld daran war ein kleines Café in Frankfurt.

Wolfgang Martynkewicz: Das Café der trunkenen Philosophen. Wie Hannah Arendt, Adorno & Co. das Denken revolutionierten. Aufbau-Verlag, 459 Seiten, 42.50 Franken; ISBN 978-3-351-03887-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783351038878

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