Buchtipp

Nächster Tipp: Die kürzeste Geschichte Englands
Letzter Tipp: Fenster ins Gehirn

Basel, unterwegs

Publiziert am 9. Juni 2022 von Matthias Zehnder

Was ist eine Stadt? Statistisch ist die Zahl der Einwohner ausschlaggebend, aber wir wissen alle, dass das nicht genügt. Eine Stadt ist ein verdichteter Raum, wo Architektur, Kultur, Wirtschaft und Leben auf kleinem Raum starke Verbindungen eingehen. Anders gesagt: Eine Stadt ist ein Ort mit vielen sich überlagernden Geschichten. Lukas Schmutz hat in der Stadt Basel einige dieser Geschichten entflochten: Er hat 26 interessante Persönlichkeiten auf jeweils selbst gewählten Spaziergängen durch die Stadt begleitet und ihre Geschichte und ihre Sicht auf die Stadt, ihr Werden und ihre Verwandlungen aufgeschrieben. Unter den Spaziergängern finden sich Architekt Jacques Herzog ebenso wie Münsterpfarrerin Caroline Schröder Field, Roche-CEO Severin Schwan, Regierungsrätin Esther Keller und Soziologieprofessor Ueli Mäder. Die Persönlichkeiten teilen dabei ihre Ansichten – und zwar im doppelten Sinn: Die Sicht auf Basel, die sie durch die Wahl ihrer Route vermitteln, und die Meinungen, die sie dabei teilen. Lukas Schmutz hat diese Ansichten von Basel und die erzählenden Spaziergänger auch fotografiert. Entstanden ist auf diese Weise eine wunderbare Mischung aus Stadtführer und Geschichtenbuch, das kaleidoskopisch die sich abspielenden Veränderungen der Stadt Basel einfängt.

Selten in ihrer langen Geschichte hat sich die Stadt Basel so rasch und so radikal verändert wie in den letzten Jahren. Auf dem Roche-Areal ist der erste Hochhaus-Cluster der Schweiz entstanden. Der Messeturm hat mit dem Claraturm ein Gegenüber erhalten. Der Bahnhof SBB verschwindet fast zwischen dem Meret Oppenheim Hochhaus auf der einen und dem Baloise-Turm auf der anderen Seite. Dazu kommen gleich eine ganze Reihe von sogenannten Transformationsarealen: Auf dem Lysbüchel, dem Dreispitz und im Klybeck steht die Überbauung von grossflächigen Industriebrachen an. Die Stadt Basel befindet sich mitten in einer tiefgreifenden Verwandlung.

Vor diesem Hintergrund hat Lukas Schmutz, der ehemalige Inlandchef von Radio SRF, 26 Basler Persönlichkeiten zu den Veränderungen in ihrer Stadt befragt. Die Gespräche hat er nicht am Schreibtisch geführt, sondern auf Spaziergängen durch ebendiese Stadt. Die Befragten durften dabei ihre Routen selber wählen. Entstanden sind Porträtskizzen der Stadt und ihrer Bewohner:innen, die jeweils mindestens so viel über die Gesprächspartner verraten wie über den Teil der Stadt, der die Kulisse zum jeweiligen Spaziergang bot.

Mit Jacques Herzog ist Schmutz auf das Bernoulli-Silo geklettert und hat von der Aussichtsterrasse auf dem Getreidesilo auf 50 Metern Höhe auf die Stadt geblickt, in der Herzog so viele Spuren hinterlassen hat. «Von hier oben ist das ja eine völlig andere Stadt», sagt Herzog und bricht dann mit Schmutz zum Spaziergang Richtung Dreirosenbrücke auf. Da erzählt Herzog, wie wichtig ihm im städtebaulichen Nachdenken die Spaziergänge und die Velofahrten durch die Stadt seien. «Die Anschauung, also das faktische Erleben von Architektur, das ist extrem wichtig». Diese Erkenntnis zieht sich durch das ganze Buch. Etwa, wenn Münsterpfarrerin Caroline Schröder Field vom Bruderholz aus ihr Münster sucht, das zwischen den hoch aufragenden Neubauten verschwindet. Sie findet, dass die neuen Rochetürme fast wie Münstertürme aussehen, nur dass sie wesentlich grösser und moderner sind. «Aber sie haben dieses Doppelturmige, das das Münster auch hat, und darum sieh das hier fast aus wie ein verfremdetes Zitat.» Es sind solche Beobachtungen, die nur machen kann, wer sich auf den Weg macht und die Stadt zu Fuss erkundet.

Zu Fuss erkundet auch Roche-CEO Severin Schwan die Stadt. Er startet beim Münster und spaziert, natürlich, zu den Roche-Türmen. Schwan stammt aus dem Tirol, einer sehr katholischen Region, wo alle Kirchen «extrem ausgeschmückt» seien mit all diesem barocken Zierrat. Als Schwan nach Basel übersiedelte, war er «tief beeindruckt vom Münster: dieses Nüchterne, Protestantische, Klare, dieses Schlichte, und dass daraus ein derart tolles Bauwerk entsteht.» Besonders angetan hat es ihm das Glücksrad über der Galluspforte, «dieser Rundlauf vom Bettler oder Gefallenen unten hoch zum König oben und dann eben wieder runter» symbolisiert für Schwan eindrücklich das Auf und Ab des Lebens. Auch die Darstellung des Gleichnisses von den zehn Jungfrauen am Türsturz der Galluspforte gefällt ihm. Das nur die mit Ölkännchen ausgerüsteten Jungfrauen zum Hochzeitsfest eingelassen wurden und die Unvorbereiteten aussen vor bleiben, das sei auch ein starkes Bild. «Es ist wie eine Ergänzung zum Glücksrad. Es braucht halt schon auch das eigene Zutun in der Entwicklung des Lebens, während da oben das Glücksrad dreht.» Auf dem Spaziergang über die Wettsteinbrücke erklärt Schwan, dass es sein Ziel beim Bau der Türme gewesen sei, quasi unsichtbare Türme zu bauen. Deshalb sind die Türme weiss: Sie nehmen die Farbe des Himmels auf und sind viel weniger dominant als ein dunkler Turm. Zusammen nehmen die beiden den Express-Lift und fahren hoch in den 47. Stock. Von hier oben sieht das Münster winzig aus. Für Schwan sind die Roche-Gebäude, so imposant sie sein mögen, aber Nebensache: Sie seien bloss ein Mittel zum Zweck, das hoffentlich die Chancen erhöhe, dass auch in Zukunft bahnbrechende Medikamente aus der Roche-Pipeline kommen. 

Auch wenn das Münster heute zwischen all den Hochhäusern fast verschwindet, bleibt es ein wichtiger Bezugspunkt vieler Spaziergänge durch die Stadt. So sucht auch der emeritierte Soziologieprofessor auf seinem Gang durch die Stadt den Münsterplatz auf und die Spaziergänge von Regierungsrätin Esther Keller und von Cellistin Sol Gabetta enden am Fuss des Münsters auf dem grossen, weiten und oft ruhigen Platz im Zentrum der Basler Altstadt. Für Esther Keller ist der Münsterplatz der Arbeitsort, die Vorsteherin des Basler Baudepartements hat ihr Büro im Falkensteinerhof am Münsterplatz. Ueli Mäder hat hier die ersten Gespräche für seine Studien über reiche Menschen geführt, hier denkt er mit dem Autor über den Reichtum der Stadt nach. Sol Gabetta findet hier, in einer Stadt, die sie für sich neu entdeckt hat, zum ersten Mal ein Gefühl von Heimat.

Die Spaziergänge verknüpfen Leben mit dem Raum der Stadt, das Erleben des Raums mit den Ansichten der Porträtierten. So verbindet der seit Corona schweizweit bekannte Infektiologe Manuel Battegay auf seinem Spaziergang die Synagoge mit dem Universitätsspital. Er war Präsident der Israelitischen Gemeinde Basel und denkt, bei allen Schwierigkeiten, gern an die gelingende Zusammenarbeit zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung in Basel. Das hebräische Wort für «Haus der Versammlung», was die Synagoge in erster Linie ist, lautet «Beit ha Knesset». Es ist der sprachliche Vorfahre des schweizerdeutschen Wortes «Beiz». Als Battegay in der Corona-Zeit den Bundesrat beriet, ging es auch um die Frage, ob die Beizen offenbleiben dürfen. Da habe er an diese Sprachverwandtschaft gedacht. Es sind solche Geschichten, die im Buch den Raum mit Erleben und interessanten Personen verbinden. Natürlich macht das Buch Lust, sich auf die Spuren von Georg Kreis und Eva Herzog, von Lukas Gruntz und Katja Reichenstein, von Sarah Barth und Jörg Reinhardt zu begeben und das Buch also als Stadtführer zu nutzen. Es lässt sich aber auch als Geschichtenbuch lesen, als Buch über Menschen und ihre Räume – und ihre Ansichten der Stadt.

Lukas Schmutz: Basel, unterwegs. 26 Spaziergänge. Christoph Merian Verlag, 350 Seiten, 34 Franken; ISBN 978-3-85616-969-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783856169695

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/buchtipp/ 

Abonnieren Sie meinen Newsletter, dann erhalten Sie jede Woche den Hinweis auf das Sachbuch der Woche in Ihre Mailbox geliefert: https://www.matthiaszehnder.ch/abo/