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Anna Göldi – geliebt, verteufelt, enthauptet

Publiziert am 24. August 2021 von Matthias Zehnder

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden in unserer Region zum letzten Mal drei Frauen als Hexen verurteilt und hingerichtet: 1775 im süddeutschen Kempten, 1779 im bündnerischen Tinizong und 1782 in Glarus. Die «Satans-Hysterie», welche die drei Prozesse verursachte, war vom damals berühmten Churer Priester und Teufelsaustreiber Johann Joseph Gassner befeuert worden. Für ihn waren unfassbare Krank­heitsbilder, wie sie etwa beim angeblich nadelspeien­den Kind beschrieben wurden, typische Phänomene von Teufelsbe­sessenheit. Anna Göldi, die 1782 in Glarus als letzte Hexe der Schweiz geköpft wurde, ist nicht nur deshalb historisch bedeutend. Walter Hauser zeigt in seinem Buch eindrücklich, wie die Veröffentlichung der eigentlich geheimen Akten über den Prozess gegen Anna Göldi eine öffentliche Debatte anstiess. Diese Debatte «ebnete den Weg zu einer vom Dämonenglauben befreiten Strafjustiz und besiegelte das Ende der Hexenverfolgung, die in erster Linie eine Frauenver­fol­gung war», schreibt Walter Hauser. Was heute fast schon vergessen ist: «Während Jahrhunderten wurden Frauen im christlichen Europa als ‹Maleficae› kriminalisiert und dämonisiert, als Übeltäterinnen und natürliche Verbündete des Teufels.»

Einmalig ist der Fall Anna Göldi auch der Aktenlage wegen: «Die Dokumente sind einzigartig, weil nie zuvor oder danach behördliche Willkür bei einem Hexenprozess derart minutiös protokolliert wurde und erhalten blieb – Schwarz auf Weiss ein amtliches Zeugnis für die damals herrschende Arroganz der Macht», schreibt Hauser. Er kann es beurteilen. Er ist Jurist und promovierter Prozessrechtler und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Hexenprozess gegen Anna Göldi. Ein erstes Sachbuch über den Prozess hat er 2007 publiziert. Titel: «Der Justizmord an Anna Göldi». 2008, kurz nach Erscheinen des Buchs, beschloss das Glarner Kantonsparlament die Rehabilitierung von Anna Göldi. Darum überarbeitete Hauser sein Buch. Es erschien 2013 neu unter dem Titel «Anna Göldi – Hinrichtung und Rehabilitierung.» Jetzt hat Hauser das Material wieder neu bearbeitet und erweitert. Herausgekommen ist ein neues Buch: Jetzt setzt Hauser die Verteufelung der Frauen stärker ins Zentrum. Hauser zeigt dabei als Jurist die zeitgeschichtlichen und rechtlichen Zusammenhänge des Göldi-Prozesses auf und vermittelt als Buchautor auch die dramatische Schicksalsge­schichte von Anna Göldi. 

Religiös begründete Gewalt gegen Frauen gibt es bis heute. Im Westen distanzieren wir uns davon – und zeigen mit dem Finger auf das «mittelalterliche» Verhalten etwa in islamistisch regierten Staaten. Wir blenden dabei gerne aus, dass die Verfolgung, Folterung und Tötung von «Hexen» auch während der Neuzeit schreckliche Realität war – und zwar mitten im christlichen Europa, auch in der Schweiz. Dreihundert Jahre lang, etwa von 1480 bis 1780, wurden sowohl in katholischen als auch in protestantischen Gebieten zehntausende von Frauen als «Hexen» hingerichtet, weil sie zu selbstbewusst waren, weil eine Magd ihren Arbeitgeber «verführt» hatte oder weil sie unerklärliche Krankheiten verursacht oder geheilt haben sollten. Ein Grund für die Jagd auf Frauen war ein Buch, das 1486 zum ersten Mal erschein und sich zum internationalen Bestseller mauserte: Der lateinische Titel lautete «Malleus maleficum» – auf deutsch wurde es der «Hexenhammer» genannt. Hauser schreibt, das Buch sei «eines der frauenfeindlichs­ten und blutrünstigsten Werke der Weltliteratur». Weil das Buch in lateinischer Sprache verfasst war, konnte es in der ganzen westlichen Welt gelesen werden und fand enorme Verbreitung. Das Werk sei zur eigentlichen «Bibel der Hexenjäger» geworden. Es erschien bis zum 17. Jahrhundert in fast dreissig Auflagen. Das Buch brandmarkte Frauen als «Übeltäterinnen, Verführerinnen und Unholdinnen». Laut dem Buch waren Frauen minderwertige Wesen; «sie hätten wenig Verstand und seien deshalb empfänglicher für die Verlockungen des Teufels», schreibt Hauser. Der «Hexenhammer» erklärte Frauen pauschal zum «Übel der Natur», zur «begehrenswerten Katastrophe» und warf ihnen Defizite im Glauben vor. Dem neuzeitliche Hexenwahn, den das Buch anfachte, fielen etwa siebzigtausend (!) Menschen zum Opfer. Darunter waren auch Kinder und Männer, zu achtzig Prozent waren aber Frauen Opfer der Hexenverfol­gung. Die Hexen-Hysterie fand erst ein Ende, als im Zuge der Aufklärung die Vernunft den Aberglauben verdrängte und denGlauben an Hexen und Teufel – nun ja: zum Teufel schickte. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in Europa praktisch keine Hexenprozesse mehr. «Doch befeuert durch den Churer Priester und Exorzisten Johann Joseph Gassner flackerte in den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts der Glaube an den Teufel nochmals auf und brachte, dreihundert Jahre nach der Publikation des Hexenham­mers, die letzte Verfolgungswelle ins Rollen», schreibt Walter Hauser. Hier setzt sein Buch ein. 

Im ersten Teil portraitiert Hauser Anna Göldi, er erzählt ihr Leben und die Hintergründen der letzten Hexenprozesse im Zusammenhang mit dem von Johann Joseph Gassner neu entfachten Teufelsglauben. Nach der Enthauptung von Anna Göldi im Juni 1782 überschlugen sich die Ereignisse. Deutsche Journalisten machten den Hexenprozess zum medialen Ereignis und äusserten massive Kritik daran, dass eine Frau wegen zauberischer Handlungen enthauptet worden war. In der Schweiz war Anna Göldi aber bald darauf kein Thema mehr. Fast für hundert Jahre lang schwiegen die Eidgenossen über die Magd aus Sennwald. «Das dramatische Schicksal einer einfachen Frau passte nicht ins Bild einer Schweiz, die lieber eidgenössisches Heldentum zelebrierte», schreibt Hauser. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückte der letzte Hexenprozess wieder ins öffentliche Blickfeld – Anna Göldi wurde als historische Frauenfigur entdeckt. Eine wichtige Rolle spielte dabei wohl der Roman von Eveline Hasler.

Für Hauser ist rückblickend klar, dass der Anna-Göldi-Prozess nicht nur das Ende der neuzeitlichen Hexenverfolgung im christlichen Europa besiegelte: Dank «Whistleblower» Johann Melchior Kubli seit der Prozess «zum Wegbereiter für eine von Hexen und Dämonen befreite Strafjustiz» geworden und habe «den Wandel zum schweizerischen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts» gefördert. Im zweiten Teil des Buches widmet sich Hauser deshalb der Enthüllung der geheimer Akten zum Göldi-Fall, namentlich durch «Whistleblower» Johann Melchior Kubli. Er schlägt dabei einen Bogen von den Prozessakten bis zum Originaltagebuch des damals aktiven Journalisten Heinrich Ludwig Lehmann, das 2020 nach Glarus zurückgefunden hat.

Für Anna Göldi war der Prozess ein Martyrium. Beklemmend ist für Hauser daran, dass auch zweihundertvierzig Jahre nach ihrem Tod noch immer brandaktuell ist, war ihr in einem Teufelskreis von Liebe, Verleumdung und Hass damals widerfuhr. Im dritten Teil des Buches analysiert Hauser deshalb die epochalen Folgen des Göldi-Prozesses, der in einer Zeit des Aufbruchs in die Moderne stattfand. Im abschliessenden Kapitel über die Rehabilitierung von Anna Göldi spannt er dabei einen Bogen bis in die Gegenwart. Denn bei Lichte betrachtet brennen auch heute wieder Hexen auf dem Scheiterhaufen – bloss sind die Flammen heute oft virtuell. Verheerend sind sie allemal. 

Walter Hauser: Anna Göldi – geliebt, verteufelt, enthauptet. Der letzte Hexen­prozess und die Entdämonisierung der Frau. Limmat Verlag, 200 Seiten, 34 Franken; ISBN 978-3-03926-025-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783039260256

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