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Anderswelt

Publiziert am 11. November 2021 von Matthias Zehnder

Sie werden «alternative Medien» genannt und stellen sich gegen die «Lügenpresse». Sie sind zum Teil extrem erfolgreich. Zum Teil arbeiten auch gestandene Journalisten für die Publikationen. Was bieten diese alternativen Medien genau? Wohin führt der Weg Leser, User, Zuschauer, wenn sie sich ausschliesslich in diesen alternativen Medien informieren? Um das herauszufinden, hat Hans Demmel sich ein halbes Jahr lang aus seinem gewohnten Nachrichtenumfeld ausgeklinkt. Er hat keinen «Spiegel» und keine «Zeit» mehr gelesen, keine «FAZ˚ und keine «Süddeutsche Zeitung», er hat  keinen «Deutschlandfunk» mehr gehört und kein «n-tv» und keine «Tagesschau˚ mehr gesehen. Stattdessen hat er sich seine Nachrichten aus «alternativen Quellen» geholt. Hans Demmel sollte gefeit sein vor Blödsinn: Er ist ein erfahrener Journalist und war unter anderem US-Korrespondent von «Sat.1» und Chefredakteur von «Vox» und «n-tv». Bei seiner Expedition in die alternative Medienwelt liess er sich von Freund und Journalist Friedrich Küppersbusch überwachen. Küppersbusch sollte quasi als Eichmass dienen, wann und inwiefern sich die Wahrnehmung von Demmel ändert und so helfen, Differenz und Desinformation deutlich zu machen. Zu den Medien, die Demmel konsumiert, gehören «KenFM», «Tichys Einblick», «MMnews», «Compact», die bringen, «was andere nicht schreiben dürfen» und die «Junge Freiheit» der neuen Rechten. Es sind zwar sehr unterschiedliche Angebote, von radikal liberal bis radikal rechts, alle verstehen und verkaufen sich aber «als Alternative zu den von ihnen so genannten «System-Medien» und reklamieren, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein», schreibt Demmel. Von August 2020 bis Januar 2021 taucht Demmel in die alternativen Medien ab – im Buch berichtet er, was er dabei erlebt hat.

Das Ergebnis ist erschreckend: «Drei Klicks bis zum Abgrund: Dieses Internetprinzip funktioniert tatsächlich. Ich bin verblüfft und auch entsetzt, wie schnell das geht», schreibt Demmel. Vor allem die Autoplan-Funktion von YouTube lotst den Internauten innert Kürze vom Zweifel zum Rechtsextremismus. Und das, nicht ohne Spuren zu hinterlassen: «Schon nach vier Tagen setzen bei mir Zweifel ein, wo die Wahrheit zu finden ist. Es hat wirklich nicht lange gebraucht, um verunsichert und gleichermassen beeindruckt zu sein.»

Stetiger Refrain in allen untersuchten Medien ist die Klage über die verschwundene Meinungsfreiheit. So schreibt Demmel über einen Beitrag in der «Jungen Freiheit» des ehemaligen ZDF-Manns Peter Hahn: «Er beklagt sich über Kritik, verbreitet aber selbst die Mär von einem Land, in dem man/er seine Meinung nicht mehr sagen dürfe, die er hier gerade herausposaunt, ganz abgesehen davon, dass er dafür jederzeit einen Verleger findet. Sein neuestes Werk wird sich in der Vorweihnachtszeit 2020 prominent im Eingangsbereich deutscher Buchhandlungen stapeln.» Es sind Vorwürfe, wie wir sie auch in der Schweiz von entsprechenden Figuren kennen.

Küppersbusch lässt sich dieweil mit Einschüben lexikalischer Art zu Personen und Ereignissen vernehmen und korrigiert Falschinformationen – mit der Zeit kommt er kaum mehr nach. Nach zwei Monaten fragt er Freund Demmel, wie es ihm geht in der Anderswelt. Die Antwort: «Das alles ist sehr viel anstrengender, als ich es mir ursprünglich vorgestellt habe.» Vorsicht sei vor allem bei denen geboten, die «mit professionellem Sachverstand» die Verunsicherung des Publikums anheizen. «Das lässt mich eher fassungs- und orientierungslos zurück. Vielleicht klingt das jetzt arrogant. Im Gegensatz zu den meisten Lesern dieser Publikationen kann ich mich gegen Infiltration und Lügen wehren. Auch weil ich es will. Aber was ist mit denen, die ohnehin schon zu den Unzufriedenen gehören und das alles glauben, weil sie es glauben wollen?»

Interessanterweise gerät das Weltbild von Journalist Demmel nach den amerikanischen Wahlen ins Wanken: «Ich habe Trump als unfähig, als unflätig, als Lügner wahrgenommen. Doch die Hälfte der US-Wähler unterstützt ihn. Und hier in diesen Texten, in der Anderswelt, wird Trump geradezu zum Messias hochgejubelt.» Als besonders gefährlich empfindet Demmel Nachrichten, «die nur ganz knapp neben der Wahrheit liegen, vor allem dann, wenn sie auf ausreichend gefestigte Vorurteile treffen.»

Und natürlich ist in der «Anderswelt» der alternativen Medien Corona omnipräsent. Die Rede ist vom «Ermächtigungsgesetz» – so bezeichnen Neurechte das Infektionsschutzgesetz, das schnelles politisches Handeln in Pandemiesituationen ermöglichen und erlauben soll. «Jana aus Kassel» vergleicht sich mit Sophie Scholl, weil sie Widerstand gegen den Staat leiste und die «Mainstream-Medien» stecken mit diesem Staat unter einer Decke. Darüber kursieren krude Theorien. Etwa, dass im «abrupten home-office-Regime» der Gleichschaltungskurs über die Isolation der Redakteure funktioniere, die «zentral dirigiert oder ignoriert» würden. «In der Isolation der ‹Bubble› wurde jeder innerbetriebliche Widerstand erstickt. Chefredakteure und ausgewählte Redaktionsleiter setzten den aus dem Kanzleramt und aus Nato-Stellen vorgegebenen Kurs um – und desinformierten damit absichtlich die Leser und Zuschauer.» Demmel ist fassungslos. «Über vierzig Jahre im Mainstream-Journalismus liegen hinter mir, auch als Ressortleiter, auch als Chefredakteur. Anweisungen aus dem Kanzleramt, geschweige denn von der Nato gab es nie. Was ist mit Menschen passiert, die so etwas schreiben?»

Das alles hat auch auf den erfahrenen Journalisten Demmel eine starke Wirkung. «Es wird Zeit brauchen, sich von diesen Erfahrungen zu lösen», schreibt er nach seinem Experiment. «Mein Misstrauen gegenüber jeder Veröffentlichung, auch den von mir so geschätzten, in der Anderswelt verunglimpften Mainstream-Medien, ist gewachsen. Im Moment hinterfrage ich jeden Satz, den ich lese, traue selbst dem eigenen Text nicht mehr.» Was ihn am meisten belastet hat: «Es ist eine Welt mit wenig Licht und noch weniger Hoffnung, diese Anderswelt.» Es sei eine «durchgehend dunkle Grundierung. Fast alles ist schlecht. Corona-Politik falsch, Flüchtlinge böse, Wohlstand gefährdet. Okay: Trump kam meistens ganz gut weg. Am härtesten angefasst wird immer wieder Bundeskanzlerin Angela Merkel.» Der durchgehend negative Ton der Berichte sei schwer zu ertragen gewesen. Was ihn dabei am meisten beschäftigt, ist der «unverhohlene Hass, die offensichtliche Hetze. Und wie einst gute Journalisten jegliches journalistische Ethos aufgeben konnten. Die zahllosen Beleidigungen.» Demmel hat dafür ein Wort gefunden: «destruktiver Journalismus».

Hans Demmel, Friedrich Küppersbusch: Anderswelt. Ein Selbstversuch mit rechten Medien. Verlag Antje Kunstmann, 224 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-95614-458-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783956144585

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