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Altern

Publiziert am 4. Juli 2024 von Matthias Zehnder

Wir werden anders alt als unsere Vorfahren. Früher war man mit fünfzig abgearbeitet und alt. Heute sind viele Achtzigjährige geistig und körperlich fit, nutzen Handy und Computer so selbstverständlich wie ihre Enkel und mischen mit. So, wie Elke Heidenreich. Sie ist jetzt 81 Jahre alt und hat ein Buch über das Altern geschrieben. «Was macht das jetzt mit mir, das Alter? Ich habe keine Ahnung», schreibt sie. «Ich weiss nur: ich stelle mich ihm, ich verleugne es nicht, ich versuche nicht jünger zu wirken, als ich bin. Und ich finde schon gar nicht, dass das Leben im Alter weniger wert ist.» Sie ist noch immer aktiv im Fernsehen und straft damit jene Lügen, die behaupten, im Telly seien nur junge Frauen zu sehen. «Man kann sich natürlich auch in die Ecke setzen, stricken und die Katze streicheln. Auch schön, wird aber schnell langweilig. Und Langeweile macht alt.» Vor allem: «Nichtstun macht nur Sinn als Gegensatz von Tun. Wenn ich nichts mehr tue, wozu bin ich dann noch da?», um schnell nachzuschieben: «Das klingt jetzt schnippisch. Ich meine es nicht so.»

In ihrem Buch denkt sie über das Alter nach, ihr eigenes und das Altern überhaupt. Sie macht das, indem sie aus den tausend Büchern zitiert, die in ihrem Haus stehen. Gleich zu Beginn kommt sie auf ihr Äusseres zu sprechen. «Ich sehe noch ganz gut aus», findet sei, wenigstens «in dem Sinn, dass ich nicht zerknittert bin. Ich war nie eine Schönheit, aber auf meine Haut ist Verlass (niemals warmes Wasser ins Gesicht!). Ich kriege, wie alle Frauen in unserer Familie, fast keine Falten. Gutes Bindegewebe.» Manchmal geht es ihr aber, wie us allen: Sie sieht ihr Gesicht unverhofft in einem Spiegel und dann denkt sie: «wer ist denn diese mürrische Alte mit den zerzausten Haaren? Und dann bin das ich.» Auf ihre Falten ist sie stolz: «Die habe ich mir erworben in langen Nächten mit Freunden, bei diesem ganzen ungesunden, wunderbaren Leben mit so viel Lachen und Lieben. Und es sind auch Falten, die von den Tränen kommen, deshalb bereue ich doch nicht, geweint zu haben – aus Kummer, aus Liebe, aus Glück. Nichts davon würde ich je wegmachen lassen.»

Elke Heidenreich hat keine kühle Analyse über das Alter geschrieben. Es ist eher eine mitreissende Selbstreflexion, kluge Gedanken und Zitate wechseln sich ab mit Beobachtungen und kurzen, autobiografischen Einschüben. Etwa: «Also, alles in allem komme ich ganz gut klar mit diesem vermaledeiten Älterwerden, weil es ja auch bedeutet, dass ich immer noch am Leben bin, und das ist für eine, die mit dreiundzwanzig (vor einer schweren Lungenoperation) vorsichtshalber schon mal ihr Testament machen musste (‹meine Kinderbuchsammlung soll in eine Bibliothek, meine Klassiker und das Akkordeon erbt Albrecht, mein Konto bitte für meine Beerdigung nehmen und Teddy Fritz bitte mit ins Grab!›), schon allerhand.»

Vor allem räumt Elke Heidenreich mit dem Mythos aus, dass die Jugend schön und das Alter furchtbar sei. «Nein, die Jugendzeit war nicht schön. Dreissig zu werden, das war schön. Vierzig – ein wunderbares Alter!» Alles über sechzig sei ein Geschenk, «fast alles unter dreissig war eine Quälerei. Ich bin heute stärker und selbstbewusster als damals mit dem koketten pinkfarbenen Lippenstift.» Im Tagebuch aus dem Jahr 1963 findet sie eine Frage, in grosser, wilder Schrift hingekritzelt: «Was will ich eigentlich?» Heute weiss sie das. «Ich habe alles erlebt, was nötig war, um jetzt zu wissen, was ich will. Ich will wach sein, aufmerksam, ich will Zeuge der Welt sein, aber nicht mehr für alles zuständig.» Da ist es, das Vorrecht des Alters.

Als sie jung war, war das ganz anders: «Mit zwanzig ist unser Herz unfertig und zagend, voller Sehnsucht nach Ichweissnichtwas, und wenn wir glücklich sind, spüren wir es nicht und wissen es erst hinterher, wenn das Glück verloren ist.» Heute wisse sie, «dass das Glück kein Zustand ist, nach dem man verzweifelt suchen muss. Es ist immer nur ein Augenblick, und ich habe gelernt, ihn zu erkennen und zu geniessen.» Und was ist mit dem Glück des Lebens? Das setze sich, so Heidenreich, aus der Summe glücklicher Augenblicke zusammen. «Diesem Glück bin ich heute viel näher als damals, mit zwanzig. Ach ja, die Jugend wäre schön, wenn sie etwas später käme und wir schon etwas klüger wären, oder? An die Jungen ist sie ja geradezu verschwendet!»

Mit literarischen und philosophischen Zitaten würzt sie ihr Nachdenken über das Alter und freut sich sichtbar selbst, wenn sie ein en besonders treffenden Satz gefunden hat. Etwa der Satz von Kierkegaard: «Wehmütig grüsst der, der ich bin, den, der ich sein möchte.» Elke Heidenreich sagt dazu: «Jetzt, im Alter, bin ich mit mir ausgesöhnt und möchte nicht mehr jemand anderes sein.» Denn «Ich bin das, was ich gelebt habe, und das, woran ich mich erinnere.» Und zitiert Margaret Laurence: «Jetzt seh ich ein, dass ich bis an mein Lebensende sein werde, wie ich bin.» Heidenreich: «Es ist ein grossartiges Gefühl, mit sich selbst ausgesöhnt zu sein.»

Auch bei der quirligen Optimistin Heidenreich meldet sich immer mal wieder das Zipperlein. Sie findet dazu trocken: «Ich altere mit Neugier.» Sie beobachte sich selbst und stelle fest: «Siehe da, die Knie wollen nicht mehr. Ach, guck mal, ich höre mein Herz, war mir noch nie aufgefallen, dass ich ein Herz habe, das so heftig schlägt, wenn ich mich beim Treppensteigen anstrenge.» Als sie dies schreibe, habe sie gelesen, dass Keith Richards, allem Drogenkonsum zum Trotz, achtzig Jahre alt geworden sei. Er spielt immer noch Gitarre und wird als «lebende Legende» tituliert. Das passt Elke Heidenreich nicht: «ein Klischee. Wieso Legende? Ein toller alter Mann in witzigen Klamotten, immer noch attraktiv und drahtig auf der Bühne mit Musik, die sein Beruf ist. Und der sagt: ‹Wer die Angst vor dem Alter überwunden hat, kann es geniessen.› Er findet übrigens auch, ‹ein Mittag-oder Abendessen ohne ein Glas Wein ist lächerlich›. Sag ich doch.»

Elke Heidenreich ist sich bewusst, dass sie privilegiert ist und es längst nicht allen Gleichaltrigen so gut geht. Wenn manchmal nach einer Lesung eine Frau beim Signieren zu ihr sage: «Wir sind derselbe Jahrgang», schaue sie auf, «und da steht ein zerknittertes Mütterchen in beigen Omaklamotten, dann denke ich: Nee, jetzt, oder? Das bin ich nicht.» Sie zitiert Claudius Seidl: «Man ist nicht gleichaltrig, bloss weil man im selben Jahr geboren wurde, das sieht jeder, der nach dreissig oder vierzig Jahren ein Klassentreffen besucht.» Sie kenne viele jüngere Frauen, die älter scheinen als sie selbst, und dann sehe sie ihre Freundin Elisabeth, die, während sie dieses Buch schreibe, im 106. Lebensjahr sei, und klar im Kopf. «Sie ist im Kopf jünger als ich, sie ist nie verzagt, ich oft. Manchmal trinken wir einen Marillenschnaps zusammen, und sie sagt: ‹Lass dich nicht so hängen, was soll ich denn sagen. Werde du erst mal hundert.› Will ich hundert werden? Ich will nicht hundert werden. Ich bin achtzig. Da denkt man nicht weiter als bis zum nächsten Frühjahr.» Und zitiert Ludwig Wittgenstein: «Nehmen Sie das Leben in kleinen Dosen – schauen Sie nie weiter als bis zum Mittag- oder Abendessen.»

Von Astrid Lindgren stammt das schöne Zitat: «Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern.» Von genau diesem Schlag ist Elke Heidenreich. Ihre Gedanken zum Alter sind erfrischend, manchmal trotzig, oft klug. Man spürt dabei, dass Elke Heidenreich zufrieden ist. Sie sehe zwar ihre Falten am Hals und die Altersflecken auf den Händen und denke: «na ja, früher war ich glatter, schöner, aber unglücklicher, und mein Freund sagt: heute bist du viel schöner, ändere ja nichts. Und schon sehe ich wieder aus wie vierzig. Na ja, fast.»

Elke Heidenreich: Altern. Hanser Berlin, 112 Seiten, 28.90 Franken; ISBN 978-3-446-27964-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279643

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