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ADHS ist kein Makel

Publiziert am 24. März 2022 von Matthias Zehnder

ADHS ist in den letzten Jahren zur Generaldiagnose und ebenso beliebten Ausrede wie Beschuldigung geworden. Edward Hallowell und John Ratey drehen in diesem Buch den Fokus um: Sie konzentrieren sich auf die positiven Seiten von ADHS. Denn die gibt es. So sind ADHS-Betroffene in der Lage, viele Dinge in kürzester Zeit zu erledigen oder echt kreative Problemlösungen aus dem Hut zu zaubern. ADHS kann deshalb auch ein Potenzial sein. Doch wie lässt sich dieses Potenzial freilegen? Diese Frage steht im Zentrum des Buchs von Hallowell und Ratey: Sie stellen Strategien vor, wie ADHS-Betroffene ihre Stärken nutzen und die negativen Begleiterscheinungen  kanalisieren können. Deshalb erklären sie ADHS nicht als Behinderung: «Eine Person mit ADHS hat die Kraft eines Ferrari-Motors, aber die Bremsen eines Fahrrads. Dieses Missverhältnis zwischen Antriebsstärke und Bremsvermögen ist der Ursprung der Probleme. Die Devise lautet: Bremskraft verstärken!» ADHS könne deshalb «eine grosse Bereicherung» sein, wenn man «mit Sachverstand damit umzugehen» wisse. Die Betonung liegt hier auf dem Sachverstand: «Je nachdem, ob wir die Störung verstehen oder nicht, kann es uns belasten oder bereichern, dass wir uns anders fühlen und anders verhalten als andere Menschen.» 

Schon sprachlich ist das Buch ungewöhnlich: Es spricht von ADHS-Betroffenen in der «wir»-Form: Die beiden Autoren zählen sich nämlich dazu. Die Folge davon ist, dass sich der Leser nicht diagnostiziert, sondern einbezogen fühlt. Zunächst führen die beiden aber ein in die Grundlagen von ADHS aus Sicht von Psychiatrie und Neurologie. Das machen sie fundiert: Edward M. Hallowell ist Psychiater und hat zwanzig Jahre an der Harvard Medical School unterrichtet. Er leitet heute die Hallowell Centers for Cognitive and Emotional Health in Sudbury, Massachusetts, und New York City. Seit 2015 hat er zudem einen wöchentlichen ADHS-Podcast (siehe hier). Er ist selbst von ADHS betroffen. John J. Ratey ist Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School. Mit anderen Worten: Die beiden sind vom Fach. Das merkt man, wenn die beiden den «Dämon im Kopf» beschreiben.

Vor allem aber fallen Sie durch ihr Verständnis auf, das sie ADHS-Betroffenen entgegen bringen: «Die meisten Menschen mit ADHS sind von Natur aus kreativ und originell», schreiben sie. «Ihre Denkwege sind ungewöhnlich, und sie verspüren ständig den Wunsch, etwas aufzubauen, zu entwickeln oder zu kreieren, ob Business, Boot, Buch oder Brotrezept. Immer ist da der Drang, etwas zu machen.» Schwierig wird es, wenn das nicht möglich ist: «Wenn wir diesem nicht nachgeben, fühlen wir uns schnell lustlos oder niedergeschlagen, unmotiviert und ratlos. Wenn wir unsere Energie in etwas stecken, das uns kreativ unterfordert, verlieren wir oft das Interesse.» Denn Langeweile sei für ADHS-Betroffene das reine Gift. «Wenn unsere Arbeit nicht unsere kreative Stärke fordert, sondern Fertigkeiten, die wir einfach nicht haben, geraten wir ins Straucheln – und empfinden das heftiger als andere. Finden wir aber ein Ventil für unsere Kreativität, das genau richtig ist, ein Projekt, in das wir uns stürzen können, dann blühen wir regelrecht auf.»

ADHS ist geprägt von Merkmalen, die Gegensatzpaare bilden: Jedem Nachteil steht auch ein Vorteil gegenüber. ADHS-Betroffene können in kurzer Zeit viel erledigen, haben aber ein grundlegend anderes Zeitgefühl und schaffen es selten, etwas termingerecht zu erledigen. Sie haben eine Vorliebe für das Unkonventionelle, Ungewöhnliche, sind aber unfähig, sich anzupassen, auch wenn dies offensichtlich das Beste für ihn oder sie wäre. Sie haben den intensiven Wunsch nach Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, haben aber Schwierigkeiten, im Team zu arbeiten oder Anweisungen anzunehmen. Sie haben das Gedächtnis eines Elefanten und können sich an Einzelheiten erinnern, die Jahre zurückliegen, vergessen aber, was sie im benachbarten Zimmer wollten oder wo der Autoschlüssel liegt, legen die Brötchentüte auf das Autodach und fahren dann los.

Die Beispiele zeigen: Jede Mangel entspricht eine Fähigkeit. Das macht ADHS in den Verhaltenswissenschaften zu etwas wirklich Besonderem. «Weil diese Tatsache lange nicht erkannt wurde, hat man auch die mit ADHS einhergehenden Stärken so lange übersehen», schreiben die beiden Autoren. Mediziner neigen nun einmal dazu, nach Krankhaftem zu suchen und sich auf Problemverhalten zu fokussieren. ADHS-Betroffene haben Schwächen, aber sie haben eben auch Stärken. «Deshalb stellen wir in unserer Praxis die Stärken der Menschen in den Mittelpunkt der Behandlung», schreiben die beiden Autoren. «Wir helfen dabei, die Superkräfte zu entdecken!»

Das machen die beiden Autoren ganz konkret mit Fragelisten und Hilfen. Sie zeigen, wie ADHS-Betroffene die eigenen Superkräfte finden und einschätzen können. Auch darüber hinaus geben sie viele konkrete Tipps und Hinweise. Etwa, wie ADHS-Betroffene ihre Umgebung hau Hause, beim Lernen und bei der Arbeit am besten organisieren. Welche Ernährung zuträglich ist und welche Nahrungsmittel den Dämon eher fördern. Ebenso wichtig: Die richtige Schlafhygiene, ein positives Umfeld und viel Lachen. Ja. Auch die Medikamente kommen nicht zu kurz. Eine Offenbarung ist das Buch aber seiner konkreten Tipps gehe, wie ADHS-betroffene ihr Syndrom als Stärke begreifen und positiv daraus schöpfen können. 

Edward M. Hallowell, John Ratey: ADHS ist kein Makel. Hilfreiche Strategien für Kinder und Erwachsene. Rowohlt, 256 Seiten, 21.50 Franken; ISBN 978-3-499-00820-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783499008207

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