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Abschied von den Boomern

Publiziert am 12. März 2024 von Matthias Zehnder

In Anlehnung an John F. Kennedy könnte ich sagen: «Ich bin ein Boomer.» Aber was ist das eigentlich? Dieser Frage geht Heinz Bude in seinem Buch nach. Das Wort kommt von «Baby Boom»: Mit dem Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg stieg in den westlichen Ländern die Zahl der Geburten. Den Höhepunkt erreichte der Babyboom in den beiden Deutschland und in der Schweiz 1964. In Deutschland waren es 1,36 Millionen zur Welt gebrachte Kinder, in der Schweiz 112’890 – so viele, wie nie mehr seither. Ab 1965 bricht die Zahl der Geburten ein. «Pillenknick» wird diese Trendwende genannt. Ursache dafür sei aber, schreibt Heinz Bude, weniger die Verfügbarkeit der «Antibabypille». Die gab schon seit 1961. Ursache war vielmehr die wachsenden Bildungsbeteiligung von Mädchen und jungen Frauen. Mehr Bildung, weniger Kinder. 2022 waren es in Deutschland noch 739’000 Geburten und in der Schweiz 82’371 – die Zahl der Geburten ist also trotz Zuwanderung stark zurückgegangen. Die Geburtsjahrgänge 1955 bis 1970 stellen derzeit etwa ein Drittel der Bevölkerung. Die Jüngeren bereiten sich auf den Ausstieg aus dem Erwerbsleben vor, die Älteren sind schon in Rente gegangen. Deshalb heisst das Buch von Bude auch «Abschied von den Boomern». Zu Beginn der 2030er-Jahre wird die Mehrheit des stärksten Jahrgangs 1964 aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sein. Es ist eine Generation, die unter völlig anderen Voraussetzungen aufgewachsen ist: im «Nachbeben des Weltkriegs», wie Bude schreibt.

Die Boomer sind die Kinder von jungen Weltkriegsteilnehmerinnen. Die Väter waren mehrheitlich zwischen 1920 und 1926 und die Mütter zwischen 1930 und 1936 geboren. Der Krieg war in Deutschland sichtbarer als in der Schweiz: Männer mit fehlenden Gliedmassen oder Prothesen prägten das Strassenbild. Viele Kinder begegneten Flüchtlingen und Vertriebenen. Die Eltern stürzten sich in den Wirtschaftsaufschwung, ihre Mittel flossen in den Bau eines Eigenheims. Im Radio waren noch Sendungen des Suchdienstes des Deutschen Roten Kreuzes zu hören. Man wusste genau, welche der Lehrerinnen und Lehrer Nazis waren.

Als Kinder waren die Boomer Teil einer Wirtschaftswunderwelt, geprägt vom Glauben an Industrie und Machbarkeit, zwischen Dosenwurst und Knorr-Suppe. Als Jugendliche erlebten sie in den 1970er-Jahren eine Zeit mit autofreien Sonntagen, Smogalarm und «Sockelarbeitslosigkeit». Das entscheidende Schlagwort wurde «Grenzen des Wachstums» des Club of Rome. Die Rede war von einem planetarischen Kollaps bis im Jahr 2100. Das war keine apokalyptische Fantasie, sondern eine mit wissenschaftlichen Mitteln erstellte Prognose begrenzter Ressourcen auf einem übervölkerten Planeten. Trotz düsterer Prognosen liefen «Tourismus, das Geschäft mit Möbeln, Autos und Unterhaltungselektronik auf Hochtouren», schreibt Bude. Dazu kam der Ausbau des Bildungssystems, des Kulturbereichs und die Errichtung von Museumsbauten, Grosskliniken und Universitäten mit viel Beton. Der Soundtrack der Zeit sei von James Last gekommen: Eine «Endlosschleife des ewigen Weitermachens». Den zweiten Klassiker der Zeit schrieb 1973 Daniel Bell, der den Aufbruch in die «postindustrielle Gesellschaft» verkündete. «Die jugendlichen Boomer», schreibt Heinz Bude, «suchen also in den 1970er-Jahren nach Orientierung in einer Welt, in der neben der Depression des Zuendegehens die Wünsche eines Ausbruchs aus dem ‹stahlharten Gehäuse› (Max Weber) eines industriellen Betriebskapitalismus stehen.» Die Boomer seien die erste Generation ohne direkte Kriegserfahrung, geprägt durch das Bild einer «Zukunft ohne Gewähr».

In seinem Buch zeigt Heinz Bude gut nachvollziehbar, was die Boomer geprägt hat. Hans-Joachim Kulenkampff und Hans Rosenthal, Hoffnungsträger Willy Brandt und die RAF, Koreakrieg und Kuba-Krise, die aufkommende Frage der Ökologie, Anti-Atom-Demos und «Atomkraft? Nein danke»-Kleber und die beiden grossen Brüche des gesellschaftlichen Optimismus durch Aids und Tschernobyl. Was hat das alles bewirkt? «Die Boomer sind ihr ganzes Leben lang auf Begriffe gestossen, an die sie nicht glauben konnten, die sie sich aber trotzdem irgendwie anverwandelt haben: Leistung, Gemeinschaft, Technik, Fortschritt und Zukunft», schreibt Heinz Bude. Dass Leistungsbereitschaft allein nicht genügte, merkten viele schon als Jugendliche: «Sie waren einfach zu viele, und deshalb blieben viele, die viel leisten wollten, trotzdem auf der Strecke.» Man musste sich früh genug in den richtigen Kreisen bewegen, seine Talente rechtzeitig entdecken oder einfach Glück haben. «Boomer sind für Leistung, weil darin ihre Chance lag, aber sie sind nicht für einen rabiaten Begriff der Leistungsgesellschaft zu haben, der jene wegputzt, die nicht so gut mitgekommen sind», schreibt Bude. «Sie spüren da nämlich immer noch den Leistungsfanatismus ihrer Eltern, der alles Schwächliche und Zögerliche niedermacht.» Technik sei für die Boomer kein Abschreckungsbegriff. «Was soll gegen intelligente Suchmaschinen, verbindende soziale Medien und eine bequeme Finanzdienstleistung zu sagen sein?» Das Paradox, dass man «knechtende menschliche Jobs» durch Industrieroboter ersetzt und gleichzeitig überflüssige «Bullshitjobs» der digitalen Überwachung schafft, sei für die Boomer eine «korrigierbare Fehlentwicklung».

Jetzt sind die Boomer lebensgeschichtlich in der Situation, in der sie Abschied von ihren Eltern nehmen.  Alzheimer und Altersheim, Pflege und Sterbehospiz werden zum Thema. Die Boomer-Kinder, die sich in der nachelterlichen Lebensphase befinden, kümmern sich um ihre Eltern, die als Hochbetagte am Ende ihres Lebens stehen. Die ganz Alten werden von den noch nicht so Alten in Obhut genommen. Das Sterben der Eltern erinnert an das eigene Sterben. «Will man so sterben, wie die Eltern gestorben sind? Will man den eigenen Kindern zumuten, was einem die eigenen Eltern abverlangt haben? Können meine Leiden zu Lehren für die anderen werden?» Dazu kommen Zweifel: Was kann der Wohlfahrtsstaat den geburtenstarken Boomern noch bieten? Die meisten Boomer hätten verinnerlicht, dass sie selbst für ein gesundes Altern Sorge tragen müssen. «Ausgewogene Ernährung, sportliche Betätigung und kognitive Anregung sind Themen für eine auf die alternden Boomer abgestimmte Angebotsökonomie geworden. Die Boomer sind Kundinnen, die sich entsprechend beraten, bedienen und stimulieren lassen.» Sie mussten sich einen Platz in der Familie, in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt erkämpfen, jetzt geht es um den Platz im Alter. Und dann?

Heinz Bude ist ein spannendes Buch über die Boomer gelungen. Es schafft  Zusammenhänge und erklärt vieles von dem, was uns Boomer ausmacht. Es wäre ein Buch, das unseren Kindern helfen könnte, ihre Väter und Mütter zu verstehen. Jetzt ist nur noch die Frage, wie wir sie dazu bringen können, ein Sachbuch voller Buchstaben zu lesen…

Heinz Bude: Abschied von den Boomern. Hanser, 144 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-446-27986-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279865

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