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77 Tage. Amerika am Abgrund: Das Ende von Trumps Amtszeit

Publiziert am 29. Juli 2021 von Matthias Zehnder

2018 wurde Michael Wolff mit dem Buch «Fire and Fury: Inside the Trump White House» bekannt: Er hatte sich praktisch ins Weisse Haus von Donald Trump gesetzt und über 200 Gespräche mit Mitarbeitern geführt. Jetzt legt Wolff ein Buch über die letzten Tage von Trumps Präsidentschaft vor. Auf englisch heisst es «Landslide: The Final Days of the Trump Presidency». Auf deutsch ist das Buch bei Rowohlt unter dem lakonischen Titel «77 Tage» erschienen. 77 Tage – so lange dauerte es zwischen der Wahl des Präsidenten und der Inauguration. Wie kommt es, dass sich ein amerikanischer Präsident, der doch über fast unendliche Ressourcen verfügt und die besten Juristen und Berater um sich versammeln kann, wie kommt es, dass ein so mächtiger Mann sich eine so völlig absurde Lügen-Kampagne stürzt und dabei auch noch gigantische, taktische Fehler macht? Anders gesagt: Was treibt Trump an? Warum kommt er auf so abseitige Ideen, warum hört er nicht auf erfahrene Berater und Politiker, sondern zieht sein absurdes Ding durch? Warum? Das ist die Frage, die als roter Faden das neue Buch von Michael Wolff durchzieht. Die Antworten darauf sind spannend, vielsagend – und erschreckend.

Da ist zunächst einmal Trumps Umgang mit Beratern und Informanten. Auf schlechte Nachrichten reagiert er wütend und pflegt auf den verbal einzudreschen, der sie ihm überbringt. Die Folge davon: Berater versuchen, sich auf gute Nachrichten zu beschränken und die Nachrichtenlage zu schönen. «Die einzigen Informationen, die dem Präsidenten zuflossen, waren positive Informationen. Und indem er sie anderen berichtete, wurden sie nur noch positiver», schreibt Wolff und gibt unzählige Beispiele für diesen «Despoten-Effekt». In der Wahlnacht am 3. November 2020 hatte das zur Folge, dass Trump lange nur positive Hochrechnungen überbracht wurden. So lange die Zahlen gut aussahen, war er aufgeräumt und happy. Also zeigten ihm seine Berater gute Zahlen. Um 23 Uhr 20, als so gut wie alle im Map Room dem Präsidenten versicherten, wie hervorragend alles aussah und die Feier in vollem Gang war, schlug die Meldung, Trumps Haussender Fox News habe Arizona Biden zugesprochen, wie eine Bombe ein. «Sämtliche Gewissheiten und Überzeugungen schienen sich innerhalb von Sekunden in nichts aufzulösen», erzählt Wolff. Donald Trump habe seine Wahl «eher emotional als quantitativ» gesehen. «Für ihn war der Schritt von Fox News der endgültige Verrat. Mehr noch, er war eine Kampfansage.» 

Eigentlich hätte Trump über genug Informationen verfügt, um sich ein klares (und realistisches) Bild der Lage machen zu können. «In Wirklichkeit jedoch bekam er die meisten seiner Informationen entweder aus dem Fernsehen, so auch jetzt, wo die Sender angesichts der ersten Trump-Zahlen in Verwirrung, wenn nicht gar in Panik gerieten; oder über das stark überarbeitete Bild, das ihm seine Berater präsentierten, die ihm, solange es sich nicht um schlechte Nachrichten handelte, die zwingend überbracht werden mussten, mit Sicherheit nur gute Nachrichten überbrachten.» Donald Trump ist ein Geschäftsmann, ein Immobilienhändler. Dennoch hat er eine Abneigung gegen Daten. Er hat nie einen Computer benutzt und schon gar keine Tabellenkalkulation. Wolff schreibt: «Er konnte weder E-Mails noch Texte empfangen. In gewissem Sinn gehörte er zu den informationslosesten Menschen der Nation. Darüber hinaus hatte er eine Abneigung gegen seinen eigenen Datenexperten.» 

Deshalb reagierte Trump schon auf die erste Nachricht, dass Biden Arizona gewonnen habe, nicht rational, sondern emotional. Seine Wut richtete sich ausschliesslich auf den Fernsehsender Fox – es war nicht Arizona. «Er wusste, er hatte gewonnen. Es war Fox. Es waren die Murdochs, die andauernd versuchten, ihm ans Bein zu pinkeln. Er war der Goldesel für Fox, und was hatte er davon? Sie schuldeten ihm was, trotzdem hatten sie ihn reingelegt», schreibt Wolff. «Es war offensichtlich – er konnte schliesslich eins und eins zusammenzählen. Er hatte Arizona gewonnen, alle sagten es. Aber Fox und die Murdochs versuchten ihm aus heimtückischen, illoyalen und sehr gemeinen Gründen seinen Sieg zu stehlen. Über die Stimmenauszählung hinaus ging es für ihn hier psychologisch um etwas weitaus Persönlicheres. Es ging nicht um Zahlen; es ging um die Motive. Das Motiv war, ihn fertigzumachen.»

Damit stand das Narrativ für die Nacht und für die folgenden Monate bis zur Inauguration fest: Man versucht ihm, den Sieg zu stehlen. Früh in der Wahlnacht behauptet das Trump und er beisst sich immer mehr in diese These fest. Er hört nur noch jene Berater, die ihn in seiner Sicht bestätigen und blendet die realistischen Menschen in seinem Umfeld aus. Weil die wissen, dass der Weg mit Trump zu Ende ist und sie sich ihre Karriere nicht verbauen wollen, indem sie auf den letzten Metern von Trump fertiggemacht werden oder sich vor der Öffentlichkeit lächerlich machen, setzen sich daraufhin immer mehr Realisten aus dem Team ab. Die Folge: Schon wenige Tage nach der Wahl ist Trump nur noch von Spinnern umgeben, die ihn in seiner Sicht bestätigen. Ganz besonders Rudy Giuliani überbietet sich mit immer neuen Theorien und Taktiken, wie die Wahl doch noch zu holen ist. Er fabuliert von 80 eidesstattlichen Erklärungen über Wahlmanipulationen – keine einzige existiert. Er sucht immer verrücktere Mittel und Wege, Trump die Wahl doch noch zu sichern – alle scheitern sie. Nichts hat vor Gericht bestand. All die Bemühungen haben aber eine schreckliche Folge: Trumps Anhänger glauben daran. Bis es mit dem Sturm auf das Kapitol zum Höhepunkt der Krise und zum Tiefpunkt des Landes kommt.

Wolff seziert die Krise mit scharfer Feder und zeigt auf, wie es so weit kommen konnte. Immer wieder versucht er zu erklären, wie Trump tickt, wie es sein kann, dass ein Mann im Oval Office so faktenfremd denken, reden und handeln kann. Er schreibt, der wohl gravierendste Punkt sei: «Trump hatte ein Problem mit Zahlen oder vielleicht auch nur eine alternative Sichtweise darauf. Wenn Zahlen für die meisten Menschen etwas Unveränderbares sind, so waren sie für ihn überraschend, ja geradezu magisch dehnbar. Eine spezifische Immobilienhändler-Sichtweise. Ein Eine-Million-Dollar-Anwesen für den Käufer war ein Fünf-Millionen-Dollar-Anwesen für den Verkäufer. Es gab keine Zahl, die er nicht auf wundersame Weise aufzublasen verstand.» Wolff zeigt, wie Trump als fabulierender Zampano eine speichelleckende Entourage mit sich reisst – und die Grand Old Party der Republikaner mit dazu. 

Wolff schildert die Wahlnacht und die darauf folgende, immer chaotischer verlaufende Kampagne Trumps mir packender Genauigkeit. Erschreckend daran ist vor allem die Unprofessionalität und das Chaos, das im Weissen Haus die ganze Zeit über herrschte. Packend, spannend und vielsagend.

Michael Wolff: 77 Tage. Amerika am Abgrund: Das Ende von Trumps Amtszeit. Rowohlt, 416 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-498-00282-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498002824

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