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1939 – Exil der Frauen

Publiziert am 1. September 2022 von Matthias Zehnder

Flucht und Exil im Zweiten Weltkrieg – an wen denken Sie? Sicher an Thomas Mann, vielleicht an Carl Zuckmayer, Erich Maria Remarque oder an Ödön von Horvath. Doch es sind nicht nur Männer vor den Nazis geflohen: Unda Hörner erzählt in diesem Buch die Geschichten von Frauen im Exil, darunter so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Hannah Arendt, Else Lasker-Schüler, Dorothy Thompson und Anna Freud. Hörner geht dabei chronologisch vor: Das Buch ist in zwölf Monatskapiteln organisiert. Es beginnt im Januar 1939 mit Simone de Beauvoir, die im Café de Flore in Paris sitzt und ihren dritten Kaffee trinkt. Es endet im Dezember mit Gertrude Stein, die über die Möglichkeit nachdenkt, in die USA zu gehen. Doch der Gedanke daran, fern ihrer geliebten Stadt Paris zu sein, wo immer noch so viele ihrer Kunstschätze auf bessere Zeiten warten, tut ihr weh. Dazwischen folgen wir dem Schicksal von Helene Weigel, die mit dem Brecht-Tross nach Schweden zieht und von Marlene Dietrich, die die amerikanische Staatsbürgerschaft annimmt. Erika Mann veröffentlicht mit Bruder Klaus ein Who’s who der deutschen Kultur im Exil. Frida Kahlo macht Furore mit einer Ausstellung in Paris, Peggy Guggenheim muss ihre Galerie in London schliessen und Kafkas einstige Gefährtin Milena Jesenská geht in Prag in den Widerstand. Simone de Beauvoir schreibt im Café de Flore ihr Kriegstagebuch und Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart touren im Auto von Zürich nach Kabul. Es sind spannende Geschichten von spannenden Frauen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. 

Unda Hörner hält sich nicht mit einer langen Einleitung auf und bietet auch kein Nachwort. Sie konzentriert sich ganz auf ihre Protagonistinnen, ihre Hoffnungen, ihre Ängste. Vor allem erzählt sie viele kleine (und grosse) Geschichten von spannenden Frauen. Etwa wie die amerikanische Journalistin Dorothy Thompson Adolf Hitler interviewte. Sie schrieb danach: «Als ich Hitlers Suite im Kaiserhof Hotel betrat, war ich davon überzeugt, dem künftigen deutschen Diktator gegenüberzustehen». Doch sie revidierte ihr Bild schnell: «Nach etwa fünfzig Sekunden war ich mir ganz sicher, dass dem nicht so war. So lange habe ich gebraucht, um die erschreckende Bedeutungslosigkeit dieses Mannes zu ermessen, der die Welt in Aufruhr versetzt hatte.»

Oder die Geschichte, wie Else Lasker-Schüler offiziell Abschied von Zürich nimmt. Sie hat hier Zuflucht gefunden, aber die Zürcher wurden nicht warm mit ihr. Die Dichterin mit ihrem exzentrischen Aufzug mit Leopardenkappe und wehendem Kaftan ist eine Provokation für die Eidgenossen, vor allem für jene, die sich vor der sogenannten Überfremdung des Landes durch die Emigranten fürchten. Im Zunfthaus zur Meisen an der Limmat verabschiedet sie sich von ihnen. Sie fühle sich mit den Einwohnern von Zürich «ob Ihnen meine Verwandtschaft angenehm oder nicht, stadtverwandt». Nur die «urwüchsige Sprache und die Art ihrer Betonung, trotz emsigen Ochsens, vermochte ich nicht zu copieren.» Else Lasker-Schüler klagt die Judenverfolgung in Europa an und sagt, dass sie ins gelobte Land flüchten werde: nach Jerusalem. Das Land Israel gibt es zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht.

Unda Hörner berichtet von vielen starken Frauen, auch von Frauen, die gemeinsame Sache mit den Nazis gemacht haben wie Leni Riefenstahl. Auch das ist eine spannende Geschichte: Die Riefenstahl musste 1929 eine bittere Niederlage hinnehmen. Als aufstrebende Filmschauspielerin schnappte ihr eine Konkurrentin namens Marlene Dietrich die Rolle der Lola in Josef Sternbergs Film «Der blaue Engel» weg. Seit der Film in den Kinos lief, ist die Dietrich allen ein Begriff. Sie ging mit Sternberg nach Hollywood und ihre Karriere nahm weiter Fahrt auf. Leni Riefenstahl bleibt in Deutschland und macht sich einen Namen als Regisseurin. Seit 1933 arbeitet sie eng mit dem Propagandaministerium von Joseph Goebbels zusammen. Sie dreht einen Film über den fünften Reichsparteitag der NSDAP, auf deren Empfängen sie sich gern tummelt. 1939 wird Leni Riefenstahl olympisches Gold zuteil, eine Medaille des IOC für ihren Film über die Spiele im Sommer 1936. Jetzt will sie ein riesiges Studiogelände für ihre eigene Filmfirma bauen. Das Geld dafür kommt aus der Kasse der NSDAP.

Viele der Geschichten bleiben nicht isoliert. Unda Hörner begleitet Frauen wie Annemarie Schwarzenbach und Ella Maillart, Else Lasker-Schüler, Helene Weigel oder Anna Freud durch das Jahr und schildert ihre Fortschritte und Rückschläge wie die Erlebnisse naher Freundinnen. Sie vermittelt auf diese Weise Perspektiven in den Alltag von Geflüchteten, Künstlerinnen, Ehefrauen und Wissenschaftlerinnen. Es sind neue Perspektiven – und es sind schlicht spannende Geschichten.  

Unda Hörner: 1939 – Exil der Frauen. Ebersbach & Simon, 256 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-86915-268-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783869152684

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