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1923. Ein deutsches Trauma

Publiziert am 4. August 2022 von Matthias Zehnder

1923 ist Deutschlands Krisenjahr: Das Land ächzt unter den Reparationszahlungen an die Krisenmächte, versucht ernsthaft, eine Demokratie aufzubauen und wird doch von allen politischen Seiten daran gehindert: In Hamburg kommt es zum Aufstand der KPD, wenig später putschen Ludendorff und Hitler in München und verkünden aus dem Bürgerbräukeller die Absetzung der Reichsregierung. Dieses Jahr 1923 stellt der irische Historiker Mark Jones in seinem Buch als Krisen- und Wendejahr dar. Er schlägt dabei nicht den grossen Bogen und verliert sich, anders als andere Bücher über einzelne Jahre, auch nicht im persönlich-privaten Klein-Klein. Er hat sich 13 Ereignisse herausgepickt, die insgesamt für das Krisenjahr stehen, für jeden Monat eins. Und ein Ereignis, das den Anstoss gibt für das Krisenjahr. Das Buch beginnt deshalb schon im Sommer 1922. Deutschland versucht, wieder gleichberechtigt und auf Augenhöhe mit den anderen Mächten in Europa zu verkehren, als rechtsnationale Kreise Walther Rathenau ermorden den jüdischen Aussenminister. Die Ermordung steht stellvertretend für beide Deutschland: Das fortschrittliche, demokratische einerseits, in dem ein Jude Aussenminister werden konnte, und das ultrakonservativ-nationalistische, das dafür sorgte, dass Rathenau ermordet wurde. Mark Jones schreibt, 1923 sei die «Saat für ein demokratischeres und weniger nationalistisches Deutschland» gelegt gewesen. Mit seinem Buch untersucht er die Faktoren, welche verhindert haben, dass die Saat Früchte trug.

Für den Januar schildert Jones zum Beispiel die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen: Am 11. Januar 1923 waren zwei französische und eine belgische Kolonne ausgerückt und hatten das Ruhrgebiet besetzt. Der französische Regierungschef Raymond Poincaré erklärte, dass Frankreich habe handeln müssen, um sicherzustellen, dass es eine Entschädigung für die Verwüstungen erhielt, die seine Gebiete im Krieg erlitten hatten, und um zu verhindern, dass ihm der Sieg «Stück für Stück» gestohlen werde. Die französische Propaganda rechtfertigte die Besetzung als eine begrenzte Mission. Irgendwie kommen einem diese Sätze aus aktuellem Anlass bekannt vor.

Am 20. April, seinem 34. Geburtstag, tritt Adolf Hitler in München auf: Im Zirkus Krone richtet er sich an 9000 Zuhörer. Mark Jones beschreibt die Rede. Schnell wird klar: Wer hinsah und hinhörte, der wusste, was Hitler wollte. Der Titel von Hitlers Geburtstagsrede lautete: «Politik und Rasse. Warum sind wir Antisemiten?» Hitlers zentrale Aussage: Die deutsche Rasse werde erst dann frei sein, wenn der Versailler Vertrag ausser Kraft gesetzt und der «innere Feind kaltgestellt» sei. Er sei stolz darauf, dass die Nationalsozialisten des «Radau-Antisemitismus» beschuldigt würden. Es gebe keine «anständigen» und «nichtanständigen Juden». Alle Juden seien Deutschlands «Todfeinde». Kein einziger könne jemals deutscher Staatsbürger werden. Hitler ruft in die Menge: «Wir kennen nur ein Volk, für das wir streiten, und das ist das unsere. Mögen wir inhuman sein! Aber wenn wir Deutschland retten, haben wir die grösste Tat der Welt vollbracht.» Jones kommentiert trocken: «Während der gesamten Rede und an ihrem Ende ertönten wilde Jubelrufe und tosender Beifall.»

Erstaunlich hellsichtig analysierte die «Münchener Post»: «Mit der Aufforderung zu Mord, Totschlag und Verbrechen aller Art lässt sich auf die Dauer die Gefolgschaft weder zusammenhalten noch in ersehnter Weise vergrössern. Man muss also die ‹objektiven› Momente der Bewegung durch subjektive, in der Persönlichkeit des Braunauer Anstreichers liegende Eigenschaften ergänzen. Und zwar solcher Art, dass daraus, für ein mehr als naives Volksempfinden, die Gestalt eines Messias herauswächst.» Hitler hat sich vom Ausseinseiter zum Volksverführer gewandelt. 1923 wird zum wichtigsten Jahr im ersten Jahrzehnt der politischen Karriere Hitlers. Mark Jones macht in seinem Buch klar, dass die Nationalsozialisten und ihr Führer Deutschland nicht urplötzlich überfielen. Viele Bürgerinnen und Bürger teilten ihr Gedankengut. Dazu gehörten auch antisemitische Verleumdungen und Mordaufrufe.

Ihren Höhepunkt fand die frühe Hitler-Begeisterung mit dem Putsch in München: Nach dem Vorbild von Mussolini und seinem Putsch in Italien versuchten am Freitag, dem 9. November 1923, die Nationalsozialisten in München die Macht an sich zu reissen. Fast 2000 bewaffnete Anhänger versammelten sich. Die Parole hatte der «Völkische Beobachter» ausgegeben: «Der parlamentarische Schwindel muss verschwinden, an seine Stelle muss eine nationale Diktatur treten.»

Adolf Hitler war damals 34 Jahre alt. Er ging an der Spitze, in der Mitte der anführenden Reihe, die mit kleinem Abstand zu den Kolonnen dahinter voranschritt. Anders als die übrigen Marschierenden, die paramilitärische Uniformen trugen, trug Hitler Zivilkleidung. Nur wenige Meter von ihm entfernt marschierten einige der wichtigsten künftigen Führer NS-Deutschlands mit: «Sechs der zwölf Männer, die 1946 im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt wurden, befanden sich unter den Putschisten», schreibt Jones. Es waren der spätere «Reichsmarschall» Hermann Göring, Hans Frank, Julius Streicher, Alfred Rosenberg, Wilhelm Frick und Fritz Sauckel.

Jones schreibt, in München habe den Putschisten eine grosse Menschenmenge zugejubelt: «Manche riefen: ‹Heil!› Viele in der Menge verachteten die Weimarer Republik und sehnten sich nach einer Rückkehr zu den stabilen und prosperierenden Verhältnissen des Kaiserreichs.» Viele Polizeibeamte hätten mit den nationalistischen Zielen der Demonstranten sympathisiert: «Einige bayerische Polizeioffiziere hatten in den zurückliegenden zwölf Monaten sogar ebenjene Paramilitärs ausgebildet.» Es kam zum Schusswechsel mit der Polizei. Eine der Kugeln traf Erwin von Scheubner-Richter, der unmittelbar neben Hitler, mit ihm untergehakt, in der ersten Reihe marschierte. Mark Jones schreibt: «Beim Schreiben dieses Buches war ich verblüfft über die Reaktionen, die ich von deutschen Freunden zu diesem Thema erhielt. Kein Einziger, mit dem ich gesprochen habe, hatte jemals von Erwin von Scheubner-Richter gehört. Der Flug der Kugel, die ihn tötete, liess meine Gesprächspartner immer wieder innehalten. Wäre sie nur einige Zentimeter weiter rechts geflogen, hätte sie an jenem Tag Hitler getroffen, und die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wäre völlig anders verlaufen.»

Es sind solche Schilderungen, die unter die Haut gehen und die beweisen, dass nicht kommen musste, was nach 1923 kam. Mark Jones schreibt im Epilog: «Von Anfang an enthielt der Weimarer Staat sowohl die Saat, die zu der unvorstellbaren Gewalt und Zerstörung NS-Deutschlands heranreifen sollte, als auch die Saat, die ein demokratisches, friedliches, in ein integriertes Europa eingebettetes Deutschland hervorbringen konnte.» Beim Jahreswechsel 1923/24 sei nicht klar gewesen, in welche Richtung Deutschland sich entwickeln werde. Es habe gute Gründe gegeben, an eine positive Entwicklung des Landes in Richtung einer Demokratie zu glauben. Das Buch zeigt so auch eindrücklich, wie fragil Demokratien sind – und dass wir ihnen Sorge tragen müssen.

Mark Jones: 1923. Ein deutsches Trauma. Propyläen, 384 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-549-10030-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783549100301

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