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1920. Am Nullpunkt des Sinns
Für die einen stehen die 20er Jahre für eine goldene Ära von Literatur, Musik und Kunst, für die anderen stehen sie für die gescheiterte Republik von Weimar und das Aufkeimen des Nationalsozialismus. 2020, hundert Jahre danach, fühlen sich viele Menschen an die 1920er Jahre erinnert. Wiederholt sich die Geschichte? Da kommt ein fundiertes Buch über die 1920er Jahre gerade recht. Wolfgang Martynkewicz zeichnet mit vielen Zitaten ein lebendiges Portrait der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Zu den wichtigsten Protagonisten gehören dabei Stefan Zweig, Kurt Tucholsky und Robert Musil. Alle drei waren sie der Überzeugung, dass 1920 der Welt die Ordnung abhanden gekommen war: «Das Leben, das uns umfängt, ist ohne Ordnungsbegriffe», schreibt Musil. Der Mensch habe keinen sicheren Grund mehr. Er habe weder von sich selbst noch von der Tatsachenwelt eine genaue Kenntnis: «Die Tatsachen der Vergangenheit, die Tatsachen der Einzelwissenschaften, die Tatsachen des Lebens überdecken uns ungeordnet.»
So unterschiedlich der Blick der drei Dichtern im Einzelnen ausfällt, in einem besteht Einigkeit zwischen ihnen: In der «Welt von 1920» sind die Gewissheiten verschwunden, Orientierungen haben sich aufgelöst, das Geistige ist zersplittert. «In der babylonischen Welt gibt es keinen übergreifenden Sinn. Zum kollektiven Lebensgefühl der neuen Zeit gehört die Haltlosigkeit, der Relativismus, der die Dinge nur noch im Verhältnis sieht, alles ist relativ geworden in dieser Welt», schreibt Martynkewicz. Wenn aber alles relativ ist, dann gibt es keine Sicherheit mehr in der Welt: Es könnte alles immer so, aber auch ganz anders sein. Und genau darin erkennen wir uns heute wieder.
1920 war der Erste Weltkrieg zwar beendet, doch richtig Frieden herrschte nicht. Der Krieg dauerte weiter – als Krieg in den Köpfen. Schon bald wurde aus dem Krieg der Argumente ein Krieg der Strassenschlachten. Zum allgemeinen Zeitgefühl gehörte die Bodenlosigkeit. Der grosse Krieg war vorbei – das Gemetzel hatte sich als völlig sinnlos erwiesen. So suchten die Menschen jenseits der etablierten Kultur nach neuen Konzepten und Ideen. «1920 war ein Jahr zwischen den grossen Daten der Geschichte – ein Jahr zwischen den Zeiten», schreibt Martynkewicz.
Die grossen Entwicklungen der Zeit waren Mechanisierung, Maschinisierung und Verdinglichung – auch sie kommen uns, wenn wir «Mechanisierung» durch «Digitalisierung» ersetzen, auf fast unheimliche Art bekannt vor. 1920 fanden die Entwicklungen in der Kunst der Dadaisten, insbesondere in den Montagen und Collagen von Hannah Höch ihren Ausdruck. Martynkewicz ortet in ihrer Kunst keine politische Position, sondern «ein allgemeiner Ekel über den Zustand der Welt», eine «tiefe Enttäuschung über Kunst und Kultur, an die man vor dem Krieg noch geglaubt hatte.» Hannah Höch zeigte in ihren Fotomontagen, was sich um diese Zeit in der Gesellschaft abspielte: Zerfall, Auflösung, Chaos – aber auch das Experimentieren, die Suche nach neuen Kombinationen und Zusammenhängen. Die Fotomontage, sagt Hannah Höch, sei für sie «ein neues phantastisches Gebiet» gewesen. «Ein wundersames Neuland, das zu entdecken als erste Voraussetzung hat: Hemmungslosigkeit.»
Zu einer Symbolfigur von 1920 wurde Albert Einstein: «Der Naturwissenschaftler verkörperte wie kein anderer, mit seiner Modernität und seinem nonkonformistischen Habitus, das neue Selbstbewusstsein der jungen Weimarer Republik. Er geriet aber auch genau damit in die Kritik, er – der jüdische Gelehrte – war der Repräsentant jener komplexen Welt, die man nicht mehr verstand, die nur noch für die ‹Ernsthaften› zugänglich und begreifbar war, die mit abstrakten Begriffen und mit mathematischen Formeln umzugehen wussten», schreibt Martynkewicz. So wurde aus Einstein, dem Faszinationsobjekt, für viele ein Hassobjekt.
«Wer das Zeitgefühl um 1920 in den Blick nimmt, kommt um den Begriff ‹relativ› und ‹Relativismus› nicht herum.» Alles Feste schien in Auflösung begriffen. Man sah sich auf schwankendem Boden, in einer Welt, in der es keine Sicherheit mehr gibt, keine überzeitlichen Gesetze und Wahrheiten, an die man sich halten und sein Leben und Denken ausrichten konnte. Einstein wurde zur Symbolfigur der Relativität. Für seine Gegner stand Einstein und die von ihm vertretene Physik – zumindest symbolisch – für eine Welt, aus der man sich ausgeschlossen fühlte, und das Gefühl des Ausgeschlossenseins setzte sich um in Aggression und Wut. Auch darin erkennen wir uns hundert Jahre später wieder. Das Buch von Wolfgang Martynkewicz ist deshalb nicht nur ein wunderbar zu lesendes Portrait von 1920, es ermöglicht immer wieder spannende Bezüge zur Gegenwart.
Wolfgang Martynkewicz: 1920. Am Nullpunkt des Sinns. Aufbau-Verlag, 383 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-351-03777-2
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783351037772
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Buchtipp zum Wochenkommentar vom 3. Januar 2020: Hundert Zeilen Hoffnung
Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps samt Link auf den zugehörigen Wochenkommentar finden Sie hier: