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1919. Ein Kontinent erfindet sich neu

Publiziert am 31. Dezember 2019 von Matthias Zehnder

2019 neigt sich unerbittlich dem Ende zu – letzte Gelegenheit, auf dieses Buch aufmerksam zu machen: In «1919» zeichnet Birte Förster ein wunderbar lebendiges Porträt der Zeit von vor 100 Jahren. Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war von spannenden Aufbrüchen und vielen Hoffnungen geprägt: Für kurze Zeit schien alles möglich. Staaten wurden gegründet, Parteien und Organisationen aus dem Boden gestampft. Die Gründung des Völkerbundes sollte künftige Kriege verhindern. Gleichzeitig zeichnete sich die unheilvolle Entwicklung schon ab: 1919 gründete Mussolini in Mailand den Faschistenbund und Lenin in Moskau die Dritte Kommunistische Internationale. Und abseits der grossen Zentren in Europa war der Krieg keineswegs zu Ende.

Birte Försters Buch ist alles andere als eine trockene Geschichte. Es ist ein lebendig geschriebenes Panorama einer Zeit. Sie lässt dabei Stimmen zu Wort kommen wie Harry Graf Kessler, Virginia Woolf, Viktor Klemperer, Käthe Kollwitz und Franz Kafka. Im ersten Teil «Aufbruch und Vernetzung» erzählt das Buch von der Demokratisierung des Wahlrechts und der Ausweitung des Wahlrechts auf die Frauen. Gerade diesen Beginn können wir Schweizer nur unter leisem Erröten lesen. Bereits 1915 hatten Dänemark und Island, 1917 auch Russland das Wahlrecht für Frauen (und Männer) eingeführt. Im Februar 1918 wurden in Grossbritannien alle Männer ab 21 und alle Frauen ab 30 Jahren wahlberechtigt. In Deutschland, Estland, Lettland, Litauen, Luxemburg, Österreich und Polen wurde das allgemeine Wahlrecht 1918 eingeführt. In den Niederlanden konnten alle Frauen ab 1919 wählen. Die Tschechoslowakei und Albanien führten 1920 das Wahlrecht für Frauen ein, Schweden 1921 und Irland 1922 bei Gründung des Freistaats. Die Schweiz folgte bekanntlich erst 1971. Ach ja.

Der zweite Teil des Buchs dreht sich um die Neuerfindung von Europa in Paris: 1919 trafen sich über tausend Delegierte der 27 Siegermächte des Ersten Weltkriegs in der französischen Hauptstadt und versuchten, die Welt so zu regeln, dass Frieden geschlossen und dauerhaft gesichert werden konnte. Das war eine Mammutaufgabe. Denn schon zwischen den USA und Frankreich, Italien und England klafften die Interessen (und die Meinungen) weit auseinander, wie das bewerkstelligt werden könnte. Die ehemaligen Kolonialmächte erreichten, dass sie ihre zerfallenden Imperien neu zu ordnen vermochten.

Ende 1918 notierte Käthe Kollwitz in ihr Tagebuch: «Dieses Jahr hat den Krieg beendet. Noch ist kein Frieden.» Dabei sollte es bleiben. Deshalb heisst der dritte Teil des Buches «Neue Staaten, neue Kriege». In den Randzonen der auseinanderbrechenden Imperien, des Russischen, des Osmanischen und des Habsburgischen Reiches kam es ab 1919 zu neuen Kriegen oder neuen Ausbrüchen von Gewalt, häufig im Zusammenhang mit der Gründung von Nationalstaaten. Rumänien führte Krieg gegen Ungarn, Polen gegen die Westukraine, die Iren kämpften gegen die Engländer. Viele dieser Auseinandersetzungen prägen die Politik in Europa noch hundert Jahre später. Sich zu vergegenwärtigen, wie die Konflikte begonnen haben, hilft dabei, sie heute zu verstehen. Deshalb bleibt «1919» auch nächstes Jahr lesenswert.

Birte Förster: 1919. Ein Kontinent erfindet sich neu. Reclam, 234 Seiten, 28.90 Franken; ISBN 978-3-15-011181-9

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Buchtipp zum Wochenkommentar vom 20. Dezember 2019: Mein Fragebogen 2019

Eine Übersicht über sämtliche Buchtipps samt Link auf den zugehörigen Wochenkommentar finden Sie hier:

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