«Wir sind Spitteler»
Vor 100 Jahren hat Carl Spitteler als bisher einziger Schweizer Schriftsteller den Literaturnobelpreis erhalten. Das war keineswegs selbstverständlich. Mit der Rede «Unser Schweizer Standpunkt», kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft (NHG) in Zürich gehalten, hatte es sich Spitteler 1914 mit der Intelligenzia in Deutschland verscherzt. Anlass genug, für ebendiese NHG, zusammen mit Bundespräsident Ueli Maurer, Spitteler-Fachmann Peter von Matt und anderen (unter anderem mir) zurückzuschauen und auszurufen «Wir sind Spitteler!»
Auch vielen Germanisten ist Carl Spitteler heute kaum mehr ein Begriff. Das Wissen geht nicht über das hinaus, was auf einem Trivial-Pursuit-Kärtchen Platz hätte: Geboren 1845 in Liestal (ein Baselbieter!), gestorben 1924 in Luzern, Versdichter, bisher einziger Schweizer Nobelpreisträger – hat 1914 eine wichtige Rede gehalten. Der 100. Geburtstag und (auf den Tag genau) der 105. Jahrestag dieser Rede war für die Neue Helvetische Gesellschaft Anlass, am 14. Dezember 2019 im Zürcher Volkshaus eine hochkarätige Tagung zu Carl Spitteler durchzuführen: Bundespräsident Ueli Maurer überbrachte Grussworte der Bundesregierung, der Berner Politologe Wolf hielt die Festansprache. Interessant war dabei vor allem der Gegensatz zwischen diesen beiden Reden.
Bürgerpflicht, Neutralität und Anti-Mainstream
Bundespräsident Ueli Maurer griff drei Punkte aus der Rede von Spitteler heraus: die Bürgerpflicht, die (neutrale) Einheit der Schweiz und die Anti-Mainstream-Haltung. Das Bemerkenswerteste an der Rede sei, erklärte Maurer, dass es sie überhaupt gebe: «Spitteler hat seine Rede als Bürgerpflicht empfunden. Er machte sich Sorgen um sein Land.» Die Rede sei «ein Beispiel dafür, dass in unserem Land Bürger eingreifen, wenn etwas aus dem Ruder läuft. » Spitteler sei es um die Sache gegangen, nicht um sich selbst. «Deshalb sind wir alle Spitteler und die Schweiz hat auch viele Spitteler nötig.» Die olympischen Höhen seiner Dichtung seien ihm nie ganz zugänglich gewesen, erklärte Maurer. «Seine politische Standpauke ist uns allen aber in Erinnerung geblieben.»
Als zweiten Punkt nach der Bürgerpflicht hob Maurer die Einheit der Schweiz hervor. «Neutral zu sein, wenn der ganze Kontinent geteilt ist, braucht Kraft.» Spitteler kritisiere die Parteinahme für eine fremde Sache. «Gerade den Eliten ist der Kleinstaat oft zu eng. Sie verbinden sich mit den Kritikern. Wir können in diesem Land aber nur zusammenleben, wenn wir uns zusammenraufen.» Der heutige Mainstream habe manchmal wenig mit konstruktiver Politik zu tun. «Wer etwas kritisiert, findet bei Journalisten und Künstlern schnell Anwälte. Wir müssen heute das Gemeinsame wieder ins Zentrum stellen.»
Als dritten Punkt hob Maurer den Mut hervor, den Spitteler gebraucht habe: «Wenn wir die Rede heute lesen, verpassen wir die politische Brisanz. Damals hat Spitteler sich gegen den Mainstream gewendet.» Spitteler habe sich gegen den Zeitgeist gestellt. «Die Begeisterung für fremde Mächte drohte das Land zu zerreissen. Aus heutiger Sicht verkennt man den Mut, den Spitteler brauchte, weil ihm die Geschichte recht gab.» Bezogen auf das Motto der Tagung und auf die Podiumsdiskussion erklärte Maurer: «Wenn wir die Rolle von Spitteler vergleichen mit der Rolle, die Kulturschaffende heute spielen, dann muss ich sagen: Kulturschaffende spielen heute kaum eine Rolle mehr.»
Der Auftritt von Bundespräsident Maurer war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Es ist zum einen nicht selbstverständlich, dass der amtierende Bundespräsident an einer Veranstaltung teilnimmt, die einen Literaten würdigt. Der Bundespräsident trat freundlich im Ton auf und lächelte viel. Alles wunderbar. Und dann sagte er ja auch Dinge, die recht vernünftig tönten. Erst auf den zweiten Blick wird einem klar, dass der nette, ältere Herr in freundlichem Ton eigentliche Ungeheuerlichkeiten von sich gibt. Spittelers Rede aus dem Jahr 1914 als Parteinahme für eine Abschottungsneutralität im Jahr 2019 umzudeuten, ist mindestens ein grosses Missverständnis. Unmissverständlich ist Maurers Absage an die Kulturschaffenden: Paraphrasiert sagt er, Spitteler habe sich aus Bürgerpflicht gegen den Mainstream gewendet und sich für die Schweiz eingesetzt. Heutige Kulturschaffende schwämmen nur noch im Mainstream des Schweiz-Bashings und spielten für ihn, Maurer, deshalb keine Rolle mehr.
Auch das ist ein Missverständnis: Spittelers Rede wurde 1914 durchaus als «Schweiz-Bashing» aufgefasst, eben weil er sich damit gegen den damaligen Zeitgeist richtete. Künstler richten sich bis heute Gegen Mainstream und Zeitgeist. Maurer verkennt aber, dass er selbst mit seiner seiner nationalkonservativen Haltung des «Switzerland first» stark dem Zeitgeist und dem Mainstream entspricht – und sich deshalb Opposition aus Künstlerkreisen gegenüber sieht. Und Carl Spitteler ist keineswegs der aufrechte Bürger, als den ihn Ueli Maurer beschreibt. Spitteler habe «nie ein Blatt vor den Mund genommen und ist doch schwer zu fassen», schreibt Peter von Matt im Sammelband «Carl Spitteler: Dichter, Denker, Redner. Eine Begegnung mit seinem Werk» (Nagel&Kimche 2019). Über die «bürgerlich-solide Schweiz » habe Spitteler «eines der frechsten Bücher» geschrieben, den Roman «Imago», wie Peter von Matt schreibt «mit nadelspitzen Bosheiten, wie sie erst ein halbes Jahrhundert später in Max Frischs ‹Stiller› wieder aufblitzen, und doch gilt er weit herum als ein Retter des Vaterlandes, der in gefährlicher Stunde die zerstrittene Eidgenossenschaft mit einer besorgten Rede zur Einheit aufrief.» Spitteler steht in den Schulbüchern mit seiner patriotischen Ballade «Die jodelnden Schildwachen» – die sich aber bei genauerer Lektüre als Parodie auf vaterländische Lyrik entpuppt. Kurz: Spitteler war damals wohl genauso aufmüpfig und frech, wie es heutige Künstler sind – bloss kann er sich gegen die Vereinnahmung durch den Bundespräsidenten nicht mehr wehren.
Die Rolle der Dichter&Denker
Der Frage, ob Kulturschaffende heute politisch noch eine Rolle spielen, ging der Berner Politologe Wolf Linder in seiner Rede nach: Welche politische Rolle spielen und spielten Dichter und Denker in der Schweiz? Seine These: Der Einfluss der Dichter und Denker auf die Politik ist grösser, als wir meinen. Linder nannte fünf Beispiele für seine These:
Friedrich Schiller: Schillers «Tell» machte eine lokale Sage zu einem Stück Weltliteratur und schenkte unseren Vorfahren ein starkes Narrativ für das Zusammenwachsen des Kantonsvölker.
Gottfried Keller: Er war in frühen Jahren ein glühender Anhänger des jungen Nationalstaats. Im Alter war Keller zutiefst enttäuscht über die Entwicklung des Landes. Er kritisierte das Wachstum in Worten, die heute noch modern anmuten.
Frisch und Dürrenmatt: Frisch stellte sich der moralischen Frage nach Schuld. Haben wir uns mit der neutralen Haltung unseres Landes schuldig gemacht? Dürrenmatt hat uns mit dem Besuch der alten Dame ein Lehrstück über Geld und Demokratie hinterlassen. Ähnliches gilt für seine Rede über die Schweiz als Gefängnis.
Iris von Roten: eine soziologisch scharfe Denkerin. Ihr Buch «Frauen im Laufgitter» löste einen Sturm der Entrüstung aus, auch unter Frauen.
Weiter nannte Linder Thomas Hürlimann, Niklaus Meienberg, Peter Bichsel, Charles Ferdinand Ramuz und Adolf Muschg. Auf letzteren geht die Präambel der revidierten Bundesverfassung zurück. Haben die Dichterworte Einfluss? Sie bedienen sich, wie die Politiker, der Sprache, anders als Politiker haben sie aber keine Machtmittel. Genau diese Machtlosigkeit ist aber eine Stärke, weil sie keine Vorteile aus ihren Worten ziehen können. Abschliessend meinte Wolf Linder, Spitteler würde sich wundern, wie aktuell seine Rede über den nationalen Zusammenhalt heute noch sei.
Podiumsdiskussion über die heutigen «Spitteler»
Danach diskutierte ein Podium unter anderem mit Ständeratspräsident Hans Stöckli (SP), Literaturprofessor Peter von Matt, Politphilosophin Katja Gentinetta und mir darüber, wo Stimmen wie die von Carl Spitteler heute sind und ob sie noch gehört werden.
Ich persönlich bin diesbezüglich mittlerweile sehr pessimistisch und dies aus zwei Gründen:
1) Aufmerksamkeitsorientiertheit der Medien: Die allermeisten Medien (nicht nur in der Schweiz) setzen heute auf ökonomische Modelle, die auf Reichweite basieren. Je mehr Views&Clicks, desto mehr Umsatz. Anders gesagt: Der ökonomische Erfolg von Medien basiert auf Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit holen die Medien (vor allem im Internet) mit den Techniken des Boulevards: personalisieren, emotionalisieren, sensationaliseren. Ziel ist nicht Einsicht, sondern Aufregung.
Das ist die logische Folge einer übermedialisierten Gesellschaft, in der Aufmerksamkeit zum kostbarsten Gut geworden ist. Übermedialisiert ist die Gesellschaft, weil sie digitalisiert ist, denn jede Digitalisierung ist immer auch eine Medialisierung. Anders gesagt: In der digitalen Welt haben die Medien ihre Macht verloren, weil alles zum Medium geworden ist. Deshalb kämpfen Amazon und Apple heute genauso um die Aufmerksamkeit der Menschen wie die NZZ und der Blick.
In dieser Umgebung haben es Intellektuelle im Allgemeinen und Dichter&Denker im Besonderen schwer. Was sich nicht in einer drei-Wort-Schlagzeile (oder noch besser: in einem Bild) ausdrücken lässt, geht unter. Die allermeisten Medien verzichten deshalb von vorneherein auf Intellektualität. Einige wenige Medien wie die NZZ sind deshalb zum Intellektuellen-Hort geworden – die Wirkung eines einzelnen Beitrags ist jedoch gering.
Die grösste Wirkung in den letzten Jahren hatte wohl der Schweiz-Essay von Lukas Bärfuss in der «FaZ» – typischerweise hat er dafür den Weg der maximalen Empörung gewählt: Schweiz-Kritik aus dem Ausland geht gar nicht. Entsprechend hat der Text vor allem sekundär hohe Wellen geschlagen: Die Schweizer Medien haben skandalisierend darüber berichtet (gelesen haben ihn wohl die wenigsten Schweizerinnen und Schweizer).
2) Dazu kommt die Krise der Eliten: Mittlerweile ist auch in der Schweiz eine verbreitete Anti-Eliten-Haltung festzustellen. Vom Universitätsprofessor über Bundesrat und Parlament bis hin zum Intellektuellen und zum Künstler haben die Eliten ihren Einfluss verloren. Wir leben in der Zeit der Fake News von Donald Trump: Wahr ist nicht, was sich belegen lässt, sondern was ich glauben will. Entscheidend ist nicht die Qualität der Argumente und die Daten und Fakten, mit denen sie belegt werden, sondern die Lautstärke, in der das Votum vorgetragen wird, die Zahl der Follower oder der Likes. Auch im Elitendiskurs hat ein Wandel von der Qualität zur Quantität stattgefunden. Schlechte Voraussetzungen für Dichter&Denker.
Heisst das, ein Anlass wie «Wir sind Spitteler», ein Gedenkjahr zum 100. Jahrestag des Nobelpreises sind vergebliche Liebesmüh?
Auch da bin ich eher pessimistisch. Die Grundfrage bei einer Berichterstattung im Zeitalter der Aufmerksamkeit lautet: Wo liegt der Konflikt? Wie kann man ihn so darstellen, dass es aufregt? Es hilft sicher, wenn der Bundespräsident kommt und wichtige Leute die Stirne krausen – aber wenn einem Insta-Sternchen der Lippenstift runterfällt, holt das mehr Klicks als hundert Zeilen über den «Olympischen Frühling». Das heisst nicht, dass man es nicht machen soll. Im Gegenteil. Gerade weil die Schweiz kaum Intellektuelle hat, kaum einen Intellektuellendiskurs pflegt, sind solche Anlässe extrem wichtig und richtig. Ich wäre nur zurückhaltend, was die Erwartungen bezüglich Wirkung angeht.
Zusammenfassend: Natürlich gibt es auch heute kluge Stimmen, Dichter&Denker, die sich wie Spitteler politisch einbringen, aber es fehlt an Echokammern, in denen diese Äusserungen Wirkung entfalten könnten.
Basel, 15. Dezember 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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2 Kommentare zu "«Wir sind Spitteler»"
Vielen Dank Herr Zehnder.
Der Webmaster der NHG
Kultur und Wahrheit haben höchstens eine Deckmantel- und keine Schlüsselfunktion, wenn es um Macht und um Reichtum geht. Das weiss beispielsweise ein superschlauer Bundesrat Maurer, wenn er dem autoritären China das Terrain ebnet. Und das weiss auch beispielsweise eine superschlaue Bundesrätin Amherd, wenn sie dem Überfluss-Symbol „Kampf-Jet“ eine Mehrheit verschafft. Das Problem ist aber nicht eine solcherart Elite, sondern dass sie von einer Mehrheit gewählt oder zumindest toleriert ist. Einer Mehrheit, die recht hat … und das auch dann, wenn es nicht das Richtige ist.