Leben im Algorithmus – wird die Stadt zum blutleeren Raum?

Publiziert am 1. April 2019 von Matthias Zehnder

Zusammenfassung meines Vortrags am Schweizerischen Stadtwerkkongress zum Thema Leben in der smarten Stadt am 29. April 2019 im Stade de Suisse in Bern.

Sie haben den ganzen Tag über die smart city geredet. Sie haben über das gute Leben in der smarten Stadt diskutiert. Für mich stellt sich die Frage, was smart city eigentlich genau heisst. Ist das Etikett smart einfach ein Zeichen dafür, dass die Stadt digitalisiert wird? Dann wäre es Etikettenschwindel. Oder ist es mehr? Dann müssten wir dieses Mehr genauer ansehen.

Auf Deutsch übersetzt heisst smart letztlich: intelligent. Ist also von einer intelligenten Stadt die Rede, wenn von der smart city die Rede ist? Was heisst intelligent in diesem Zusammenhang? Es wäre dann ja wohl eine Form von künstlicher Intelligenz. Wann ist ein Gebilde, eine Maschine intelligent?

Der erste, der diese Frage gestellt hat, war Alan Turing: Der britische Mathematiker entwickelte mit dem Turing-Test eine Art Intelligenztest für Maschinen. Der Test funktioniert so: Ein Mensch unterhält sich per Tastatur und Bildschirm mit zwei Gesprächspartnern. Wenn der Mensch nach intensiver Befragung nicht sagen kann, welcher
von beiden eine Maschine ist und welcher ein Mensch, dann ist die Maschine künstlich intelligent.

Dieses Vorgehen hat einen grossen Schwachpunkt: der Mensch urteilt über die Intelligenz der Maschine. Und der Mensch ist darin sehr unzuverlässig. Bestes Beispiel dafür ist Eliza. Das ist ein Programm, das der deutsche Computerwissenschaftler Joseph Weizenbaum 1966 entwickelt hat. Das Programm war in der Lage, anhand eines Skripts eine Unterhaltung zu einem bestimmten Thema zu simulieren. So konnte Eliza einen Psychotherapeuten imitieren. Das Skript verstand kein Wort von dem, was die Menschen sagten bzw. tippten. Wie ein Psychiater spielte es aber die Sätze zurück. Die Menschen, die Eliza nutzten, waren begeistert. Endlich hörte ihnen jemand zu. Endlich wurden sie verstanden.

Eliza war nicht intelligent. Eliza hat eine Unterhaltung nur simuliert. Und genau das machen Computer bis heute: Sie simulieren Intelligenz. Sie tun so, als könnten sie denken, dabei können sie lediglich schnell rechnen.

Nehmen wir den Urknall in der Auseinandersetzung um künstliche Intelligenz. Der hat sich am 11. Mai 1997, nachmittags um 16 Uhr, im 35. Stockwerk eines Hochhauses in Manhattan ereignet: Damals hat ein Experimentalcomputer von IBM namens Deep Blue den amtierenden Schachweltmeister Garry Kimowitsch Kasparow besiegt. Zum ersten Mal hatte damit ein Computer an einem regulären Schachturnier einen menschlichen Schachweltmeister besiegt.

Die Frage stellt sich: Wieviel verstand Deep Blue von Schach, wenn wir einen modernen Intelligenzbegriff zu Rate ziehen? Die Antwort ist einfach: nichts. Deep Blue konnte lediglich verdammt schnell rechnen. Deep Blue simulierte sein Schachspiel – das allerdings so gut, dass der Rechner den Schachweltmeister wegfegte. Eliza und Deep Blue haben Intelligenz also nur simuliert.

Das ist bei den meisten Maschinen bis heute so.

Wenn Sie Ihr iPhone etwas fragen und Siri antwortet, dann klingt das zuweilen wirklich klug. Bloss: Siri versteht nicht, was Sie sagen. Siri erkennt einzelne Wörter und ruft darauf aus einer Datenbank möglicherweise passende Antworten ab. Siri hat keinerlei Vorstellung von der Bedeutung dieser Wörter. Siri simuliert ein Gespräch. Die Menschen unterstellen Siri trotzdem Intelligenz. Denn Siri ist in der Lage, die Menschen zu überraschen.

Wann aber ist ein Computer, ist eine Maschine wirklich intelligent? Wenn wir die moderne Intelligenzforschung zu Rate ziehen, können wir etwas vereinfacht sagen: Eine Maschine ist dann intelligent, wenn sie Probleme lösen kann, wenn sie aus den Lösungen und den Problemen lernen und wenn sie sich selbst Fragen stellen kann.

Probleme lösen, lernen, neue Fragen stellen. Das wären drei Bedingungen für Intelligenz. Wie kann ein Mensch beurteilen, ob eine Maschine diese drei Bedingungen erfüllt, ihn die Kühlerhaube der Maschine zu öffnen und nachzuschauen, wie die Maschine gebaut worden ist?

  • Probleme lösen: Die Maschine löst Probleme und bietet damit den Menschen einen eigenständigen Mehrwert.
  • Lernen: Die Maschine reagiert immer wieder anders und überrascht die Menschen.
  • Neue Fragen stellen: Die Maschine reagiert nicht nur, sie leistet einen eigenen Beitrag.

Jetzt handelt es sich bei der Maschine, von der wir reden, um die Maschine Stadt. Wir können auf der Suche nach der smart city also fragen, wollen wir

  • eine Stadt, die den Menschen Probleme löst und ihnen einen eigenständigen Mehrwert bietet?
  • eine Stadt, die immer wieder anders reagiert und die Menschen damit überrascht?
  • eine Stadt, die nicht nur reagiert, sondern einen eigenen Beitrag leistet?

Dass eine Stadt den Menschen einen Mehrwert bietet, das wäre noch nachvollziehbar. Aber soll eine Stadt die Menschen durch Unvorhersehbarkeit überraschen? Soll eine Stadt einen eigenen Beitrag leisten? Das wäre tatsächlich im negativen Sinn ein Leben im Algorithmus, ein Leben also in einem Flechtwerk undurchsichtiger Computerskripte und -regeln.

Ich wünsche mir vor diesem Hintergrund keine smarter city, sondern smarter citizens. Ich wünsche mir, dass auch künftig die Intelligenz in den Köpfen der Menschen steckt – dass die Städte aber mit digitalen Schnittstellen dafür sorgen, dass die Menschen ihre Intelligenz auch nutzen können. Ihre eigene Intelligenz, wohlverstanden.

Ich wünsche mir also smart city als Empowerment des Bürgers. Die Städte sollten ihren Bürgern die Grundlagen bieten, das heisst: die Daten. Das ist ein wichtiger Punkt. Denn wenn die Städte keine digitalen Daten und digitalen Schnittstellen anbieten, dann werden das die grossen Datenverarbeiter tun, also zum Beispiel Google. Eine Stadt ohne Daten würde zum blutleeren Raum.

Daten und Datenschnittstellen also: ja, unbedingt. Denken und Entscheiden aber sollten die Bürger. Mündige Bürger, die dazu von ihren Städten befähigt werden. Das wäre ein Leben mit dem Algorithmus. Ein selbstgestaltetes Leben mit dem Algorithmus.

Bern, 29. April 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Weitere Informationen über meine Vortragstätigkeit finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/vortragemoderationen/

Ein Kommentar zu "Leben im Algorithmus – wird die Stadt zum blutleeren Raum?"

  1. Alles gut und richtig. Und: Nicht nur Maschinen auch immer mehr Menschen scheinen in der smarten Welt vor allem deshalb Erfolg zu haben, weil sie es smart verstehen, Intelligenz werte- und verantwortungsfrei zu simulieren.

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