Die Schweiz spricht – ich auch
Immer mehr Menschen bewegen sich nur noch in ihrer eigenen Bubble und haben kaum mehr mit Andersdenkenden Kontakt. Das Projekt «Die Schweiz spricht» will das ändern und Menschen mit ganz unterschiedlichen Meinungen für ein Gespräch zusammenbringen. Hinter der Initiative steht «Die Zeit» gemeinsam mit fünf Schweizer Medienhäusern: Schweizer Radio und Fernsehen SRF und Radio Télévision Suisse RTS der SRG, «Tages-Anzeiger», «Bund», «Berner Zeitung», «Le Matin Dimanche», «24heures» und «Tribune de Genève» von Tamedia, die «Republik», «Watson» und die Wochenzeitung «WoZ». Informationen dazu gibt es hier.
Alle Teilnehmer haben sechs politische Fragen beantwortet. Das Programm hat dann für jeden Teilnehmer einen Gesprächspartner gesucht, der zwar möglichst nahe wohnt, aber völlig anders tickt. Die sechs Fragen waren:
- Soll sich die Schweiz stärker der EU annähern?
- Wird in der Schweiz zu viel Land überbaut?
- Soll die Schweiz mehr Flüchtlinge aufnehmen?
- Sollten homosexuelle Paare Kinder adoptieren dürfen?
- Braucht es eine Frauenquote in den Chefetagen grosser Unternehmen?
- Geht es den Einwohnerinnen und Einwohnern in der Schweiz heute schlechter als vor zehn Jahren?
Das Gespräch mit Andersdenkenden suchen, das finde ich eine gute Idee. Ich habe mich deshalb bei «Zeit Online» eingeschrieben und die Fragen beantwortet. Natürlich urban progressiv, offen. Ich war gespannt, wen mir das System zum Gespräch zuteilen würde. Sicher so ein hinterwäldlerischer Konservativer, dem ich dann die Welt erklären könnte. Schon die Vorfreude auf das Gespräch machte mir Spass und ich fühlte mich gut dabei. Und auch etwas überlegen.
Doch dann meldete mir das System meinen Gesprächspartner: Julie, 18 Jahre alt, Gymnasiastin aus Muttenz. Im Mail stand lakonisch: In diesen Fragen sind Sie mit Julie anderer Meinung: Braucht es eine Frauenquote in den Chefetagen grosser Unternehmen?
Oh. Plötzlich war ich der zurückgebliebene Hinterwäldler, der einer jungen Frau gegenüber in Erklärungsnot gerät, warum er findet, dass es keine Frauenquote braucht, obwohl in Bundesrat und Parlament, in Regierungsrat und Grossrat (und Landrat sowieso), in Verwaltungsräten und auf Managementetagen auch im Jahr 2018 immer noch viel zu wenig Frauen anzutreffen sind.
Immerhin: Julie war mit mir altem Mann sehr freundlich. Wir waren uns ja einig, dass es mehr Frauen in Spitzenpositionen braucht. Ich habe ihr erklärt, dass ich es falsch finde, wenn man einfach eine Quote setzt, aber die Voraussetzungen für das Erfüllen der Quote nicht schafft. Mehr (zahlbare!) Kindertagesstätten. Tagesschulen. Bessere Teilzeitarbeitsmöglichkeiten. Job-Sharing auch in Spitzenpositionen. Julie findet, ohne Quote wird sich nichts bewegen in der Schweiz. Vielleicht hat sie recht.
Vor allem hat sie mir beweisen, dass es politisch interessierte und engagierte Jugendliche gibt. Sie selbst ist einer Jungpartei beigetreten, weil sie mit der Bildungspolitik im Kanton Basel-Landschaft nicht einverstanden war. Das ist die richtige Reaktion: Es braucht mehr junge Menschen in der Politik, die bereit sind, anzupacken und mitzureden. Wir hatten unsere Chance schon. Ich fürchte, wir haben sie vertan.
«Die Schweiz spricht» hat mir gut getan. Wer mit Andersdenkenden sprechen will, muss bereit sein, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Das geht nicht, wenn man von Anfang an der Überzeugung ist, recht zu haben. In diesem Sinne: Danke, Julie.
Basel, 21. Oktober 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Ein Kommentar zu "Die Schweiz spricht – ich auch"
Besser miteinander Sprechen als übereinander.
Ganz schlechtes Beispiel ist da Deutschland, besser gesagt Frau Merkel und ihre Konsorten. „Mit denen reden wir nicht“ heisst es immer über die AfD… Ganz schlimm und auch tragisch: Die AfD wird immer grösser, w e i l man nicht mit ihnen redet. Weil man sie nicht einbindet in die Regierungsarbeit. Denn dann merkt man erst, was die AfD wirklich kann. So ist sie nur auf bunten Flyers präsent und kann versprechen, was sie will – und – grösser werden. So wie schon mal in Germanien, kurz vor dem 2. Weltkrieg. Alle lachten und spottenten sie, die Edelbüger, all die „Gscheidle“, taten die Nationalsozialisten ab und merkten, da sie keinen Kontakt pflegten, eben nicht miteinander redeten, nicht mal dass diese Truppe immer grösser wurde.
Auch die Linke in D spricht nicht mit „denen“. Was für eine arrogante Haltung. Fast kann man als Schweizer sagen, die „Deutschen können Demokratie immer noch nicht so gut“. Wie wahr – aber den Briten die Schande sagen, nur weil sie aus der EU wollen, sie Piesacken und quälen – ist das der Dank, dass GB, es ist noch keine hundert Jahre her, ganz Europa, ganz Deutschland vom Nazi-Sumpf befreiten, mit Essen und Hingabe Europa wieder aufpäppelte…. Man darf nicht daran denken, sonst kommt einem (zu recht) das Bild vom hässlichen Deutschen wieder hoch…
Auch in der Schweiz reden nicht alle miteinander.
Während in der Weltwoche, dem rechtsbürgerlichen Wochenmagazin der Schweiz, auch Linke sprechen dürfen, schreiben dürfen, zu Worte kommen, oder auch in der Basler Zeitung, welche lange Zeit SVP-Mann Blocher gehörte (ab heute voll und ganz von Tamedia übernommen/Quelle Teleblocher Folge 581) waren Beiträge von Links stets an prominenter Stelle platziert, z. B. Roland Stark von der SP, Helmut Hubacher von der SP usw usw…. tut sich die linke schwer, Gastbeiträge von Rechts zu veröffentlichen. Bei der WoZ, der Republik etc… wird stramm linksideologisch geschrieben, akkurat die Zeilen abgewogen, um ja nicht „feindliche“ Gesinnung, auch bloss ein Hauch davon, zu vervielfältigen.
Deshalb:
Links und Rechts, Jung und Alt, Gross und Klein, Schwarz und Weiss: Schweigen ist Silber – miteinander Reden ist Gold.