Schafft die Nationalfeiertage ab!

Publiziert am 14. Juli 2017 von Matthias Zehnder

Wir befinden uns mitten in der Saison der Nationalfeiertage: Am 4. Juli haben die USA gefeiert, heute, am 14. Juli, feiert Frankreich, am 1. August feiert die Schweiz. In allen Ländern sieht das ähnlich aus: Fahnen schwingen, Schultern klopfen, Reden, Trinken, Feuerwerk. Die Feiern übertünchen, dass die Nationen zufällige Produkte der Geschichte sind und dass wir heute eigentlich etwas ganz Anderes feiern sollten.

Am 4. Juli haben die USA ihren Independence Day gefeiert, am 1. August feiert die Schweiz ihren Nationalfeiertag. Dazwischen feiert eine ganze Reihe weiterer Länder, am 6. Juli zum Beispiel die Komoren, am 10. Juli die Bahamas, am 14. Juli natürlich Frankreich, am 26. Juli Liberia und am 28. Juli Peru. Alle feiern sie die Unabhängigkeit: die USA und die Bahamas feiern die Unabhängigkeit von Grossbritannien, die Komoren von Frankreich, Liberia die Unabhängigkeit von den USA und Peru die Unabhängigkeit von Spanien.

Die Franzosen sind also mit ihrer fête nationale am quatorze juillet fast schon eine Ausnahme: sie feiern nicht die Unabhängigkeit, sondern den Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 und damit den Anfang der französischen Revolution. Womit sie natürlich die Befreiung von der Monarchie feiern und damit auch ein bisschen Unabhängigkeit, wenn auch nicht von einer fremden Besatzungsmacht, sondern von einer Monarchie, die sich zuweilen wie eine Besatzungsmacht im eigenen Land aufführte.

Dornröschen-Legenden

Die meisten Nationen erzählen sich ihre Geschichte also ähnlich: Es gab eine dunkle Zeit der Unterdrückung, die verbunden war mit Entbehrung und Fremdheit im eigenen Land. Dann kam es zur Erlösung, oft durch einen Befreiungskrieg, der einem Nationalhelden Gelegenheit gab, sich auszuzeichnen. Der Held erkannte die Bestimmung des Landes, das Schicksal führte ihm die Hand, so befreite er die Nation aus der Fremdbestimmtheit.

All diese Erzählungen gehen davon aus, dass es die Nation schon vorher gab. Sie schlummerte, war von fremden Mächten unterdrückt, erkannte sich zuweilen selbst nicht, war aber offenbar schon da. Die Nationalheld-Erzählungen sind also Dornröschen-Legenden: Wilhelm Tell, George Washington oder Camille Desmoulins haben ihre jeweiligen Nationen aus dieser Sicht nicht geschaffen, sie waren die Prinzen, die sie wachgeküsst haben.

Die vielen Bundesbriefe

Das ist natürlich Humbug: Nationen sind keine natürlichen Gebilde – und schon gar keine göttlichen. Nationen sind Kinder des Zufalls. Die stringenten Nationalgeschichten sind erst im Nachhinein entstanden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Schweiz. Unser Land ist, wie die meisten anderen Länder auch, aus unterschiedlichsten Gründen relativ zufällig entstanden und gewachsen. Macht, und das heisst Handels- und Wirtschaftsinteressen, waren dabei viel wichtiger als Nationalhelden à la Tell.

Der mythische Bundesbrief von 1291 ist bei Lichte besehen ein simples Verteidigungsabkommen der drei Talschaften in der Innerschweiz, die heute als Urkantone bezeichnet werden. Bernhard Stettler schreibt im Historischen Lexikon der Schweiz, es habe eine Flut von vergleichbaren Verträgen gegeben, denen man in späterer Zeit eine Bedeutung zuschrieb, die sie ursprünglich nicht hatten.[1] Zwischen 1251 und 1386 sollen über 80 vergleichbare Abkommen abgeschlossen worden sein. Als wichtigstes Abkommen galt lange der Bund von Brunnen, der 1315 geschlossen worden war.

Die vielen Eidgenossenschaften

Es gab im 13. und 14. Jahrhundert nicht die Eidgenossenschaft, es gab viele Eidgenossenschaften. Die meisten Städte waren Zentrum von eingeschworenen Bündnissystemen. Basel stand im Kreis der oberrheinischen Städte, Zürich stand den Bodenseestädten vor, Bern war Kern der Burgundischen Eidgenossenschaft. Mit der Zeit haben sich die verschiedenen Bündnisse zu dem konsolidiert, was wir heute als Eidgenossenschaft verstehen. Die Vorstellung, dass 1291 eine Art Nationalgeburt oder eine Nationalerweckung stattgefunden hat, ist also ein reines Nationalmärchen.

Bis tief ins 19. Jahrhundert hinein galt auch nicht der 1. August, sondern der 8. November als Gründungsdatum der Schweiz: Nach dem Glarner Historiker Aegidius Tschudi (1505–1572) hat der Rütlischwur am 8. November 1307 stattgefunden.[2] Erst als 1891 die Stadt Bern das 700jährige Bestehen der Stadt feiern wollte, kam die Idee auf, das Jahr 1291 und den 1. August als Gründungstag der Eidgenossenschaft festzulegen. Noch weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde aber auch der 8. November gefeiert.

Nationen sind historische Zufälle

Auch die Schweiz ist also kein himmlisches Gebilde, das so hat kommen müssen, keine Nation, die von ihrem Nationalhelden 1291 wachgeküsst wurde, sondern ein historischer Zufall. Das gilt für alle Nationen, auch für relativ homogene Nationalstaaten wie Frankreich, Grossbritannien oder Spanien. Logisch und sinnvoll ist die Nationalgeschichte erst retrospektiv. Die aktuellen Unabhängigkeitsbestrebungen der Katalanen, Korsen, Schotten und Kurden führen uns das ein kleines bisschen vor Augen.

Vor allem aber sollte die Zufälligkeit der Nationen uns vor Nationalstolz und Nationalismus schützen. Denn beides hat heute wieder Aufwind – absurd in einer Zeit des Zusammenwachsens, aber vielleicht die indirekte Folge der Globalisierung. Sein Land gern zu haben, ist in Ordnung. Stolz und Nationalismus sind jedoch fehl am Platz, ja gefährlich. Wie Franz Grillparzer 1849 warnte, gibt es einen direkten Weg von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität.[3]

Was wir wirklich feiern sollten

Denn Nationalstolz impliziert rasch nationale Überhebung über andere, Nationalismus führt zum Hass auf andere Nationen. Gerade als Schweizer, als Bürger eines Landes, das sich aus vielen Völkern, vielen Sprachen und vielen Kulturen zusammensetzt, sollten wir uns vor Nationalstolz hüten. Vor allem in dieser Zeit der Nationalfeiertage. Bei Lichte besehen gibt es die Nationalfeiertage nicht, weil am jeweiligen Tag die Nationen entstanden, sondern umgekehrt: Es gibt die Nationen, weil sie am jeweiligen Tag gefeiert werden. Nationen sind Erfindungen, die immer grösser werden, je länger man sie erzählt. Bei aller Freudetrunkenheit und Feuerwerkseeligkeit darf nicht vergessen werden, dass es die Nationen, die da gefeiert werden, ohne diese Feiern nicht gäbe. Sie sind Fiktion. Deshalb: Schafft die Nationalfeiertage ab!

Wirklich feiern sollten wir nicht die Nationen, sondern die bürgerlichen Rechte der Aufklärung, den Durchbruch von Bildung und Verstand über Nation und Stand. Absurderweise sind es gerade jene Gruppen, die sich dem Nationalismus hingeben, welche das mit Füssen treten, was unser Land wirklich ausmacht: Die Verfassung von 1848 und ihre Weiterentwicklungen von 1874 und 1891. Gleiche Rechte für alle, Solidarität mit den Schwachen, Freiheiten für Bürger – das alles sind nicht Errungenschaften einer mythischen Nationalgründung von 1291, sondern das Resultat der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution. Sie gilt es, zu feiern und hochzuhalten. Gerade heute.

Basel, 14. Juli 2017, Matthias Zehnder; mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

[1] Siehe http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D9600.php

[2] Siehe http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17438.php

[3] Siehe Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte. Hrsg. von Peter Frank / Karl Pörnbacher. 2 Bde. München 1960, Bd. I, S. 500.

5 Kommentare zu "Schafft die Nationalfeiertage ab!"

  1. Nationalfeiertage sollten ja eigentlich dazu beitragen, dass sich die Menschen, insbesondere die Bürgerinnen und Bürger eines Landes mehr mit ihrem Land und ihrer Geschichte auseinandersetzen. Die angeführten Gründe, diesen Tag abzuschaffen, sind bedenkenswert. Als Gedankenanstoss sicher gut, in der Realität hätte die Forderung wohl nicht der Hauch einer Chance, denn die Mehrheit der Bevölkerung (und nicht nur des Volchs) findet es schön und normal, dass Länder ihren Nationalfeiertag feiern. Ich denke aber, die Bedeutung dieses Anlasses ist bei Schweizer Bürgern im Ausland wohl noch höher.
    Ich wäre für einen Nationalfeiertag ohne Geballer sofort zu haben, denn nichts ist so unpassend wie Knallkörper. Ein Hohn, sich unter Krach und Knall halbwegs vernünftige Gedanken zu machen. Dafür muss man sich schon ins nicht allzu ferne Ausland zu begeben.

  2. Schön, wird der Nationalfeiertag in Frankreich gefeiert (heute / man hört während ich diese Zeilen tippe die Böllerschüsse und die Farbenpracht der Feuerwerke unserer freundnachbarschaftlichen Sundgauerdörfer mit ihrer aufrichtigen Bevölkerung bis zu uns), aber z.B. auch in der Schweiz finden die diversen Bundesfeiern in Stadt und in den Landdörfern, auch bei den Jungen, grösste Beliebtheit. Oft sind die geselligen Anlässe mit tollen Disziplinen wie Kirschkernspucken für die Jugend, mit geselligem Treffen der Ortsvereine oder gar mit „Public-viewing“ verbunden, wenn z.B. Fussballspiele von allgemeinem Interesse anstehen. Die Turner zeigen ihr Können, die Musikusse bieten ihre Laute dar, und manch einem jungen Schweizer bleibt dieses Volksnahe alljährliche Ritual in bester Erinnerung und spendet ein Leben lang Halt und Wärme. Von Nationalismus kann in der CH keine Rede sein, das macht die Schweiz eben aus: Es gibt keine pompöse Grossveranstaltung in Bern mit Militär und allen Bundesräten zusammen und der Luftwaffe und einem grossen Gala-Ball für die Elite. Nein, gefeiert wird in den Ortschaften, und die einzelnen Bundesräte schwärmen aus, sie kommen zu der Bevölkerung und nicht umgekehrt wie sonst überall. Einzigartig sympathisch. Sei es nach Unterlangenegg, nach Göschenen oder nach Wauwil. Keine Ortschaft ist dem Bundesrat zu schade. Und ein Bier aus dem selben Fass wie der Gipser und der Gemeindearbeiter vom Ort liegt auch noch drinn.
    So ist die Realität bei uns, alles andere sind Spaltpilzzeilen voller Hass aufs eigene Land, in dem man gut lebt oder allgemeine Unzufriedenheit.
    Abschliessend noch WEISE WORTE eines Politkers der Schweiz:
    “ …… Den Weltenbürger gibt es nicht. Man will es uns zwar immer verkaufen, dann haben die Linken mehr Wähler und die Rechten-Neoliberalen haben mehr Auswahl an Arbeitskräften, die sie verschieben können und billig sind.
    Ortsverbunden und Heimatverbunden, Arbeit und Wohnen unweit entfernt ist der richtige Weg, allein schon dass wir beim Pendeln zur Arbeit und auch im immer stärker spürbaren Weltenbürger-Hin und Her unseres Lebens uns nicht alle rast-ruhe-und denkpausenlos-aussichtslos verrennen…..“
    Dazu kann man nur sagen: Treffende, glasklare, wahre Worte eines patriotischen Poeten!

  3. Nationalfeiertage gehören wie beispielsweise Nationalfrau*mannschaften zum Gefühlsmodell Nation. In einer Demokratie entspricht wahrscheinlich das Modell Nation dem Bedürfnis einer Mehrheit. Sonst würde es wohl kaum öffentlich zelebriert. Nationen können das Gefühl beispielsweise von Dazugehörigkeit, Identität, Heimat, Sicherheit und Überlegenheit vermitteln. Aber auch das Gegenteil. Nationalfeiertage können so sein wie Nationen sein können: Geschäft und Show, Kult und Pomp, Schall und Rauch. Wie auch immer: Nationalfeiern sind wie Nationen weniger mein Ding.

    1. Was Nationen betrifft, bin ich insbesondere auch im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung von Fragen zur Schweizer Einbürgerungspraxis zum noch deutlicheren Schluss gekommen, dass eine Nation nur beschränkt leisten kann, was in unserer anonymen Massengesellschaft immer mehr Menschen fehlt: Die Zugehörigkeit zu einer lebendigen Gemeinschaft, die sie existenziell trägt.

  4. Es gibt ja fast keinen Tag mehr im Jahr mehr an dem nicht für irgendwas gedenkt werden muss. Zweck und Nutzen sei dahin gestellt. Aber wir könnten doch unseren Nationalfeiertag dazu nutzen um kurz innehalten. Sich bewusst werden in einem Land zu leben wo Milch und Honig fliesst. Wir meistens nur auf hohem Niveau zu jammern haben. Aus der Dankbarkeit heraus vielleicht unseren Blick öffnen können für Mitmenschen, Völker welche wirkliche Not erleiden müssen.

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