Über Provinzialität und Beleidigtheit als Zeichen der Schweiz
Mit einer Nachricht auf Twitter hat die Baselbieter Nationalrätin Susanne Leutenegger-Oberholzer (SP) einen kleinen Aufruhr ausgelöst. Mit Bezug auf die angedachte Verlegung der juristischen und der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät nach Liestal twitterte Leutenegger-Oberholzer: Ausgerechnet Wirtschaft und Recht sollen mit der Uni BS in die Provinz. Danach war Feuer im Dach. Interessant ist die Angelegenheit, weil sie ein Grundproblem nicht nur des Baselbiets, sondern der ganzen Schweiz auf den Punkt bringt. Aber der Reihe nach.
Nach der Twitternachricht von Leutenegger-Oberholzer wehrte sich das Baselbiet: Laut bz findet es SVP-Nationalrat Thomas de Courten stossend, die Kantonshauptstadt Liestal als Provinz zu bezeichnen und FDP-Nationalrätin Daniela Schneeberger bezeichnet es als fragwürdig und bedenklich. Immerhin sei Leutenegger vom Baselbieter Volk gewählt. Was uns Frau Schneeberger damit sagen will, ist nicht ganz klar, in der bz ist von Nestbeschmutzung die Rede.
Gehen wir der Sache etwas auf den Grund und fragen zunächst: Was heisst Provinz? Der Duden schreibt, das sei eine Gegend, in der (mit grossstädtischem Massstab gemessen) in kultureller, gesellschaftlicher Hinsicht im Allgemeinen wenig geboten wird. Das gilt sicher für das ganze Baselbiet und sicher auch für dessen Kantonshauptort. Es scheint aber eine Frage des Massstabs zu sein. Greifen wir also zu Zahlen.
Liestal hat nach eigenen Angaben 14’363 Einwohner. Damit belegt Liestal auf der Liste der grössten Städte der Schweiz Platz 88 (!). Zum Vergleich: Die Stadt Basel (175’725 Einwohner) ist etwa zwölfeinhalb Mal grösser und belegt auf der Liste Platz drei. Die Basler Quartiere Gundeldingen, St. Johann, Iselin und Matthäus sind alle einzeln grösser als das Städtchen Liestal. Das Grössenverhältnis zwischen Liestal und Basel ist damit etwa dasselbe wie das zwischen Basel und Paris (2’241’346 Einwohner).
Warum ist die Einwohnerzahl wichtig? Weil sie ein recht guter Indikator für die Kulturdichte ist: Paris hat über 130 Museen, in der Stadt Basel sind es etwa 25, Liestal hat drei (Dichter- und Stadtmuseum, Harmonium-Museum, Museum.BL). Die Zahlen zeigen: Aus der Perspektive von Paris ist Basel Provinz (und kein vernünftiger Basler wird sich dagegen wehren) und aus der Sicht von Basel ist Liestal Provinz. Es mag Menschen geben, die Basel für eine Grossstadt halten und Liestal für eine Stadt. Nach der Begriffsbestimmung der Internationalen Statistikkonferenz haben sie sogar recht: Nach dieser Regel ist eine Stadt mit mindestens 100’000 Einwohnern (also Basel) eine Grossstadt und eine Stadt mit unter 20’000 Einwohnern eine Kleinstadt. Aber jubeln Sie nicht zu früh: Diese Begriffsbestimmung stammt aus dem Jahr 1887.
Seither haben sich die Grössenordnungen verschoben. Heute gibt es weltweit über 100 Städte mit mehr als zwei Millionen Einwohnern. London allein hat etwa so viele Einwohner wie die ganze Schweiz. Auf der Liste der 100 grössten Städte Europas taucht keine einzige Schweizer Stadt auf. Die Liste endet mit Lyon (etwa eine halbe Million Einwohner). Nun können Sie jederzeit einwenden, Grösse sei nicht alles, die Schweiz habe andere Qualitäten, sie sei das Land der kurzen Wege und der hohen Qualität.
Das stimmt zweifellos. Wenn es aber ein Bereich gibt, bei dem es (auch) auf Grösse ankommt, dann ist das Bildung und Kultur. Je kleiner die Stadt, desto allgemeiner ausgerichtet muss das Angebot in Bildung und Kultur sein. In Hamburg mit seinen 1,7 Millionen Einwohnern ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass auch ein spezielles Kulturangebot genügend Interessenten findet. Als Georges Delnon die Direktion des Theaters Basel abgab und nach Hamburg zog, musste er sich keine Gedanken mehr machen darüber, ob es in seinem Einzugsgebiet für ein bestimmtes Angebot genügend Interessenten gibt. An einer grossen Universität mit grossen Fachbereichen ist es für einen Professor eher möglich, sich auf sein ganz spezielles Forschungsgebiet zu konzentrieren und auch entsprechende Mitarbeiter heranzuziehen als an einer kleinen Universität, wo er breiter aufgestellt sein muss und auch über weniger spezialisierte Mitarbeiter verfügt.
Das heisst nicht, dass grösser in jedem Fall besser ist. Aber es heisst, dass Basel aus der Sicht von Paris eine Provinzstadt ist – und Liestal aus der Sicht von Basel. Das ist nicht schlimm, es ist einfach so. Das Ärgerliche ist, dass viele Schweizer nicht einsehen, dass die Schweiz Provinz ist. Genau das aber macht die Provinz aus. Und genau das ist gefährlich.
Provinzialität bezeichnet die Einstellung von Menschen, die eigene regionale oder örtliche Traditionen und Einrichtungen engstirnig als das Mass aller Dinge nehmen. So denken Schweizer, die fordern, die EU (über 500 Millionen Einwohner) müsse sich nach der Schweiz (8,2 Millionen Einwohner) richten. Die glauben, was die Tagesschau zeige, sei das, was auf der Welt wichtig sei. Die Liestal, weil der Flecken in den Wirren nach 1830 zur Kantonshauptstadt ausgerufen wurde, für einen Ort halten, der Basel ebenbürtig sei.
Provinziell ist ein Ort (oder ein Mensch), wenn er aus Unkenntnis der Welt davon ausgeht, dass die ganze Welt so ist wie er selbst. Hält jemand dem Ort (oder dem Menschen) seine Provinzialität vor, reagiert der Ort beleidigt. Das Wort Provinz wird als Kritik empfunden, als Angriff. Das Selbstbewusstsein ist jedoch zu gering, um den Angriff zu parieren, so kommt es zur Kränkung, zur Beleidigung. Die Provinz stilisiert sich zum Opfer jener, die sie als solche bezeichnen. Oder anders gesagt: Liestal/die Schweiz gibt durch die Reaktion auf die Bezeichnung Provinz dem Vorwurf recht.
Die Beleidigung ist das Resultat fehlender Gelassenheit und Besonnenheit – und ein Zeitphänomen. Es ist kein Zufall, dass allein diese Woche eine ganze Reihe von Beleidigungen Schlagzeilen gemacht haben: Erdogan ist beleidigt, weil Genf auf einem Plakat ein Foto zeigt, das eine Demonstration mit einem Transparent zeigt, das Erdogan kritisiert. Österreich ist beleidigt, weil die «ZDF heute show» zum Nazi-Vergleich gegriffen und ein Wiener Schnitzel in Hakenkreuzform gezeigt hat. Bundesrätin Simonetta Sommaruga ist beleidigt, weil Roger Köppel ihr im Nationalrat persönlich an den Karren gefahren ist. Und die Medien berichten über all diese Beleidigungen gross und breit.
Eine Beleidigung ist eine emotionale Grenzüberschreitung, vom Beleidigenden, der sie verübt, wie vom Beleidigten, der sie zulässt. Es ist die Angriffsform einer narzisstischen Zeit, in der sich Angreifer wie Opfer persönlich sehr wichtig nehmen. Die Beleidigung ist zudem zum Ausdrucksmittel der Zeit geworden, weil sie allen Anforderungen des Boulevard-Journalismus entspricht: personalisiert, emotionalisiert, skandalisiert.
Dabei sind die meisten Beleidigungen lediglich das Resultat narzisstischer Selbstüberschätzung – und zwar auf beiden Seiten. Die Schweiz käme deutlich weiter, wenn sie ihre ewige, schweizerische Selbstüberschätzung beiseite legen und zur gelassenen Besonnenheit zurückfinden würde. Wir halten uns für den Nabel der Welt und sind doch nur – Provinz. Gewiss: mit Lebensqualität, sauberer Luft und adretten Geranien. Aber doch: Provinz.
Wenn wir dazu stehen, haben wir den ersten Schritt zur Überwindung unserer Provinzialität gemacht.
8 Kommentare zu "Über Provinzialität und Beleidigtheit als Zeichen der Schweiz"
Ja, genau. So einfach ist dies. Bis jetzt nirgends einen treffender Artikel gelesen.
Besten Dank und freundlichen Gruss
Theresa Pagotto
Ihre Worte:
„Dabei sind die meisten Beleidigungen lediglich das Resultat narzisstischer Selbstüberschätzung – und zwar auf beiden Seiten. Die Schweiz käme deutlich weiter, wenn sie ihre ewige, schweizerische Selbstüberschätzung beiseite legen und zur gelassenen Besonnenheit zurückfinden würde. Wir halten uns für den Nabel der Welt und sind doch nur – Provinz. Gewiss: mit Lebensqualität, sauberer Luft und adretten Geranien. Aber doch: Provinz.“
Genau die richtigen Worte, die für vieles Geltung haben. Man darf, ja man muss sie geradezu auch in Zusammenhang mit der „beleidigten“ Bundesrätin Sommaruga stellen.
Ein Parlament, in dem nicht auch mal Tacheles geredet werden darf, ist wirklich nur ein grosses, theaterähnliches Haus mit Geranien vor den Fenstern – unser Bundeshaus. Wie wahr.
Hier zeige ich mich ganz gerne einmal Europakompatibel. Was wurde in Bonn, was wird in Berlin gefetzt. Was wird einer A. Merkel alles zu Ohren getragen. Parlament. Ungereimtheiten. Lösungssuche. Und niemand soll sagen, Deutschland sei deswegen keine Demokratie.
Wer bei einem Lohn von über 400´000 Fr. wenn heisse Themen anstehen davonläuft und dies nicht verträgt, sitzt am falschen Posten. Wenn so dünnhäutig (Sommaruga) harte Verhandlungen für die Schweiz in Brüssel geführt werden, um dann beim kleinsten Zwist mimosenhaft einzuknicken, dann können ja am Ende keine starken Positionen für die Schweiz rausschauen.
Zurück mit solchen Landesvertretern. Zurück ins Bundeshaus West in 3003 Bern. Aber, so finde ich, anstatt ins Bundesratszimmer, eher ins Archiv. Und dort – ganz ehrlich – hat es wirklich Geranien vor den Fenstern.
Da hat sich Herr Zweidler aber intensiv mit dem „entscheidenen Teil“ des Kommentars befasst. Wenn ich Herrn Köppel meinen ganzen aufgestauten Frust über sein „Geschreibe“ und sein politisches Wirken von mir anhören müsste, würde er wahrscheinlich auch davonlaufen.
Dass seine SVP genau die von Herrn Zehnder beklagte schweizerische Selbstüberschätzung hegt und pflegt, scheint Herr Zweidler nicht bemerkt zu haben.
Honi soit qui mal y pence.
Betrachtet man den Tweet von SLO losgelöst von der politischen Agenda, mögen Sie recht haben. Leider steht aber zurzeit die gemeinsame Trägerschaft der Uni Basel auf dem Spiel. Es ist unsensibel mit derartigen Äusserungen die Partnerschaft zwischen Stadt und Land zusätzlich aufs Spiel zu setzen.
Wir alle höhren nicht gerne, wenn wir auf die Realität zurückgestutzt werden. Natürlich sind Basel und erst Liestal Provinz und BL wird zunehmend ein provinzieller Halbkanton. Dennoch ist es für Studies kein Drama, in Liestal zu studieren. Da hat Elsbeth Schneider politisch den richtigen Draht. Mehr Weltoffenheit und gesunder politischer Pragmatismus ist angesagt.
Danke Matthias für Deine differenzierten Überlegungen, di ich in den Basler Medien schmerzhaft vermisse.
Dieser Beitrag von Matthias Zehnder schlägt den Schweizer, Basler und Baselbieter Fässern den Boden raus. Soviel Wahrheit über unsere chaotische und perspektivenlose Provinzialität geht auf keine Kuhhaut.
Die meisten Kantone bezeichnen sich nach dem Namen ihres Hauptortes, einige nach ihrer geographischen Lage, der Talschaft in der sie liegen oder dem Fluss, der sie durchquert. Dass sich ein Kanton nach dem ländlichen Umfeld oder eben der Provinz seines historischen Hauptgegners nennt ist einzigartig und bezeichnend, denn provinzieller geht es kaum. Obwohl im Baselbiet aufgewachsen, dachte ich als Kind, der „Konsumverein beider Basel“ sei derjenige Gross- und Kleinbasels. Wie wir aber wissen, ist dem nicht so, auch wenn ein Korn Wahrheit in der kindlichen Betrachtung bleibt, denn wo wäre etwa das zweite Basel?
Obwohl diese Grundausstattung des abgespaltenen Kantonsteils äusserst geeignet ist, als Provinz betrachtet und auch bezeichnet zu werden, wäre dem Land etwas mehr Selbstbewusstsein zu gönnen. Die so dringend erforderliche Verbesserung der Zusammenarbeit mit der Stadt wird durch ewiges beleidigt sein nicht gefördert. Man kann sich doch auch als Provinz ernst nehmen ohne gleich überheblich zu sein, denn wie Mathias Zehnder schreibt ist alles relativ, verglichen mit Paris ist auch Basel Provinz, auch wenn namhafte Planer etwas grossspurig von Metropole sprechen.
Was die Wehleidigkeit von Politikern betrifft, möchte ich zum Schluss den Artikel von Roland Stark (BaZ 29.04.16) empfehlen.
Ich war letzte Woche mit meiner Frau in Lingen, Niedersachsen (Deutschland), eine Stadt mit 60 000 Einwohner. Das ist Provinz: weit weg von den wichtigen Zentren, beim ersten Blick kaum Kultur, wenig Infrastruktur, auch der Bus fährt nur spasmodisch, der Bahnhof wirkt einsam und verlassen. Die Hauptindustrien waren veraltet. Aber: gerade deshalb hat die Stadtregierung dafür gekämpft, einen wesentlichen, zukunftsorientierten Anteil an Bildung zu bekommen. In den alten Industriehallen haust ein Campus der Universität Osnabrück. Es pulsiert mit jungem Leben. Studierenden beleben die Stadt. Leute kommen zurück. Die Geschäfte atmen wieder. Das Theater hat nun ein Saison-Programme. Die Stadt kommt aus der Versenkung.
Und in Liestal ist man nur beleidigt. Lieber Herr Zehnder, ich befürchte, es wird lang brauchen, bevor es sich bessert.