Machen Sie auch Ferien am Meer der Toten?
Das Mittelmeer ist und bleibt die Traum-Feriendestination der Schweizer. Doch das Mittelmeer wird immer mehr zum Meer der Toten. Allein im Mai 2016 sind 1138 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Seit Anfang 2014 haben fast 10’000 Menschen auf ihrer Flucht nach Europa im Mittelmeer ihr Leben verloren. Viele Schweizer kümmert das offenbar nicht. Hauptsache, ihr Dorf bleibt flüchtlingsfrei – und die Drinks am Strand schön kühl.
Das Mittelmeer ist das Ferienmeer der Schweizer. Inseln wie Mallorca, Kreta oder Zypern, Strände wie die Costa Brava oder die Côte d’Azur stehen für Traumferien. Kreuzfahrten auf dem Mittelmeer machen Ferien auf dem Wasser auch für Menschen erschwinglich, die keine eigene Jacht besitzen. Das Mittelmeer ist blau bis türkis, die Wellen sind meist sanft, das Wasser angenehm warm. Ein Traum.
Vielmehr: Ein Alptraum. Denn das Mittelmeer ist zum Meer der Toten geworden. Seit Anfang Jahr sind im Mittelmeer 2856 Menschen ertrunken. 2015 waren es 3770 Menschen. 2014 waren es 3279 Menschen. Das sind fast 10’000 Tote im Mittelmeer seit Anfang 2014. Die International Organisation for Migrants führt Buch über die Toten im Meer. Auf der Website der Organisation sind die Zahlen übersichtlich aufbereitet in Form von Grafiken und Karten. Es ist eine makabre Statistik.
Allein im Mai 2016 sind 1138 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Im Juni waren es bisher 340 Menschen. Laut der Statistik des UNHCR, der Flüchtlingsorganisation der UNO, sind mehr als ein Drittel der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer fliehen, Kinder. Ein Fünftel sind Frauen, 46% sind Männer. 41% der Flüchtlinge stammen aus Syrien, 21% aus Afghanistan, 13% aus dem Irak. Auch das UNHCR hat eine Website, auf der diese Zahlen grafisch aufbereitet sind.
Die Schweizer lassen sich dadurch nicht von ihren Ferienträumen abbringen. Das Mittelmeer bleibt die Ferienregion Nummer eins. Die beliebtesten Destinationen sind Spanien, die Balearen, die Algarve, Italien, Kroatien und Griechenland mit seinen Inseln. Das zeigen statistische Erhebungen vom Juli 2015 – es ist nicht anzunehmen, dass die Ferienträume der Schweizer sich seither stark verändert haben.
Für Schweizer wie für Flüchtlinge ist das Mittelmeer der Ort der Sehnsucht. Die Schweizer wünschen sich ans Meer, weil es da so schön ist. Die Flüchtlinge wünschen übers Meer, weil es da, wo sie sind, so schlimm ist. Flüchtlinge wie Schweizer schauen sehnsüchtig auf das Wasser. Die Flüchtlinge, weil sie das Meer überwinden wollen, die Schweizer, weil sie am Meer den Alltag überwinden wollen. Beide träumen am Meer von Glück und Zufriedenheit und beide wissen, dass es fast unerreichbare Träume sind.
Die meisten Schweizer machen sich über Flüchtlinge erst Gedanken, wenn sie hier in der Schweiz sind. In der Partei mit den meisten Wählern (der SVP) betreut der Mann das Asyldossier, der seine Gemeinde mit viel Geld von Flüchtlingen freikauft. Es ist ein Modell, das wohl viele Schweizer gerne für das ganze Land übernehmen würden. Das grosse Problem für sie ist also nicht, dass Menschen auf der Flucht sind, sondern dass sie sich erdreisten, in die Schweiz zu kommen.
Finden Sie das richtig? Es kann doch nicht sein, dass die Schweiz, das Land von Henri Dunant und Heinrich Pestalozzi, kalten Herzens zusieht, wie tausende von Menschen im Mittelmehr ertrinken, in Griechenland unter menschenunwürdigen Zuständen in Lagern vegetieren oder von ungarischen Polizisten geschlagen werden. Können wir nicht etwas tun? Oder ist die Schweiz als Ganzes tatsächlich nicht Genf, sondern Oberwil-Lieli?
Das Totschlagargument gegen ein Engagement für Flüchtlinge lautet jeweils: Wir können doch nicht einfach alle aufnehmen.
Nein, wir können tatsächlich nicht alle aufnehmen. Aber heisst das, dass wir nichts tun können?
Rechtsbürgerliche Politiker betonen immer wieder, dass diese Menschen illegal einreisen. Kunststück: Es gibt fast keine Möglichkeiten, legal von Syrien, Libyen oder Jordanien nach Europa, geschweige in die Schweiz zu kommen. Sinnvoll wäre es, den Menschen vor Ort eine legale Einreisemöglichkeit anzubieten. Auf diese Weise könnte Europa, könnte die Schweiz selbst bestimmen, wer einreist.
Immerhin: Die Schweiz will im Verlauf der kommenden drei Jahre 3000 Flüchtlinge aus dem Syrienkonflikt aufnehmen. Das hat der Bundesrat im März 2015 beschlossen. Maximal 1000 Personen sollen noch in diesem Jahr aufgenommen werden. Es soll ihnen die legale Einreise in die Schweiz ermöglicht werden. Das ist ein Anfang. Aber allein im Libanon leben 1,05 Millionen syrische Flüchtlinge. In Jordanien sind es 655’000. Wer hilft ihnen?
Wir können doch nicht schulterzuckend zur Normalität übergehen. Warum kann die Schweiz nicht ihre Glaubwürdigkeit als Standortland des Roten Kreuzes einsetzen und den Flüchtlingen vor Ort helfen? Zu teuer, sagen Sie?
Diese Woche hat der Ständerat beschlossen, 2017 bis 2020 fünf Milliarden Franken pro Jahr in die Armee zu investieren. Dies, obwohl die Regierung selbst sich mit 4,7 Milliarden Franken begnügen wollte und obwohl die Beschaffung des 700 Millionen Franken teuren Boden-Luft-Raketensystems Bodluv gestoppt worden ist. Warum investiert die Schweiz diese 700 Millionen Franken nicht über das UNHCR in die Hilfe vor Ort für Flüchtlinge?
Die UNO-Vollversammlung hat den 20. Juni zum internationalen Gedenktag für Flüchtlinge ausgerufen. Der 20. Juni ist deshalb der Weltflüchtlingstag. Sie können sicher sein, dass an dem Tag viele schöne Reden gehalten werden. Aber es gibt bekanntlich nichts Gutes, ausser: man tut es. Wenn, sagen wir, jeder zweite Schweizer in seinen Sommerferien (am Mittelmeer!) einmal auf ein Dessert verzichten würde, wenn also jeder zweite Schweizer in seinen Sommerferien zehn Franken in die Flüchtlingshilfe investieren würde, wären das 40 Millionen Franken. Wenn jeder zweite Schweizer jeden Monat einmal auf ein Dessert verzichten würde, wären das 480 Millionen Franken im Jahr. Stellen Sie sich vor, jeder fünfte (oder auch nur jeder zehnte) Europäer würde einmal im Monat auf ein Dessert verzichten und das Geld dem UNHCR oder einem Hilfswerk übergeben. Stellen Sie sich das vor.
Stattdessen werden wir in den nächsten Monaten weiterhin Schlagzeilen über im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge lesen. 2015 hat die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer flüchten konnten, von Juni bis Oktober jeden Monat stark zugenommen, von 54’588 Menschen im Juni auf 221’374 im Oktober. Dieses Jahr werden es weniger sein. Dafür werden mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken.
Wo verbringen Sie Ihre Sommerferien?
5 Kommentare zu "Machen Sie auch Ferien am Meer der Toten?"
Wirklich eine menschliche Tragödie, was sich da weit draussen auf dem Meer abspielt. Was könnte man wirklich tun, ohne in Polemik zu verfallen. Wie es jetzt läuft, ist es katastrophal. Die Schlepper-Mafia, welche ganze Häfen z.B. in Libyen unter sich haben, welche wirklich Millonen an den, seien wir ehrlich, z.T. aus Not fliehenden Menschen verdienen, z.T. aber auch, was ich sogar verstehe, aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen wollenden verdienen, ist eine ganz traurige Sache.
Was kann man dagegen tun? Weiterwursteln wie bisher und die Ertrinkenden auf hoher See retten, ist nicht optimal. Denn es können trotz modernster Technik (z.B. von den Italienern) leider nicht alle gerettet werden.
Sie von der Flucht abhalten, ist irgendwie nicht machbar. Sie müssen (Not) und wollen (Wirtschaft) kommen. Sie sehen im Internet und Satelliten-TV unsere Häuser, unsere Parks, unsere Strassen, unsere Autos und unsere Gadgets. So wird immer ein Weg ins Paradies Europa gefunden werden.
Sie nicht auf die teuren Schlepperboote einsteigen lassen, dafür direkt mit sicheren Schiffen kostenlos nach Europa transportieren? Positiv wäre, den Schleppern würde das Handwerk gelegt. Aber, und da spreche ich die sozialsten Sozialen in Europa an, auch Europa ist begrenzt. Wir können nicht die ganze Welt aufnehmen, soll es bei uns nicht zu Unruhenh sozialer, wirtschaftlicher oder politischer Art kommen. Auch die km2-Zahl Europas lässt sich leider (schön und praktisch wärs) nicht aufpumpen. Man kann ein Kontinent nicht unverhältnismässig besiedeln, ohne das irgendwann zu Verteilkämpfen ums Geld, um Platz oder sonstwelcher Art kommt.
Die Hilfe vor Ort – es wird viel Gemacht. Entwicklungshilfe Schweiz z.B. gerade eben beschlossen: 11 Milliarden. Viel, oder Zuwenig? Auch Gesamteuropa lässt sich nicht Lumpen. Unvorstellbare Milliarden werden Richtung 3. Welt verschoben. Leider, und auch da keine Lösung ohne Problem, gelangt viel von diesem Geld nicht zu denen, die es brauchen könnten, sondern fliesst via Korruption, dunklen Machenschaften in diesen instabilen Ländern an die Falschen. Warum haben Machthaber der Ärmsten Länder die grössten Paläste. Warum fliegt ein afrikanischer Diktator in einem umgebauten Jumbo-Jet mit Duschen, Bädern, Schlafgemächer und Wohnsalons in der Weltgeschichte herum? Woher dessen Geld, während die Menschen dort darben?
Bis jetzt habe ich 3 Arten von „Lösungen“ aufgezählt. Alle sind problematisch. Wer hat eine bessere? Unsere Parteien (von links bis rechts, dass ist unbestritten) wären dankbar. Unser Boden wäre dankbar. Unser Kontinent wäre dankbar. Und nicht zuletzt die Flüchtenden selbst wären, gäbe es eine für sie dienlichere Problemlösung, dankbar. Denn wenn das so weitergeht, sehe ich – spätestens für unsere Kindeskinder – ein „ver-rücktes“ Europa, eine „ver-rückte“ Welt daniederliegen.
Ob Einheimische oder Zugewanderte: Im Fahrwasser der schmerzkonservativ herrschenden Mehrheit werden alle früher oder später absaufen!
Auf ein Dessert verzichten? «Das ist doch nur ein Tropfen auf den heissen Stein», werden Viele argumentieren. Sicher! Aber wenn wir statt abzuwarten, dass sich die so träge Politik bewegt, selber im Kleinen aktiv werden, dann können tausende Tropfen auch etwas bewirken. Ich bin davon überzeugt, dass jeder von uns die Möglichkeit hat, eine Idee umzusetzen und damit konkrete Hilfe zu leisten.
Ich weiss, dass ich mit den nachfolgenden Beispielen das Risiko eingehe, mir den Vorwurf einer Selbstdarstellung einzuhandeln. Doch darum geht es nicht. Doch wenn diese Beispiele den Mut zur Nachahmung erwecken, ist das Ziel erreicht.
Seit Jahren organisiere ich zusammen mit meinem Mann Benefizkonzerte zugunsten von ganz konkreten Hilfsaktionen. Dies im bescheidenen privaten Rahmen mit bis zu 50 Gästen. Dabei hat sich gezeigt, dass die Grosszügigkeit der Spender alle unsere Erwartungen immer wieder übertreffen. Dies vermutlich aus dem einfachen Grund, weil jedes Benefizkonzert einer Person oder Gruppierung zugutekommt, die mit einer hiesigen Person in einer persönlichen Beziehung steht. Seien dies Musikerinnen und Musiker aus der Schweiz, die in der Ukraine gratis Unterricht erteilen und hier gesammelte Instrumente und Notenmaterial mitbringen, oder ob jemand in Sri-Lanka eine Familie kennt, die nach einem Unfall in Not geratene ist und für den Lebensunterhalt das bereits veräusserten Tuck-Tuck ersetzt haben sollte, oder ob jemand eine geflohene Syrische Flüchtlingsfamilie kennt, denen in Jordanien der Schulunterricht ihrer zwei Söhne mitfinanziert werden kann. Auch der in Basel gegründeten Verein «Lemvos», der in Athen drei psychisch und körperlich kranken Flüchtlingen das Überleben garantiert, konnte so unterstützt werden.
Sicherlich haben nicht alle die Möglichkeit, Benefizkonzerte zu organisieren. Doch, zusammen mit meinem Mann, verwirkliche ich seit Jahren eine andere Idee. Wir laden Freunde und liebe Bekannte, die im jeweiligen Monat Geburtstag haben, zu einem Nachtessen ein. Dabei sind die Gäste gebeten, kein Präsent mitzubringen, dafür aber einen Beitrag in einen Spendentopf zu legen. Da sich diese Geburtstagsessen soweit entwickelt haben, dass pro Monat drei bis vier mit zwischen sechs und zwölf Personen stattfinden, kommen auch so jährlich mehrere Tausend Franken zusammen. Dieses Jahr wird dieses Geld als Starthilfe für ein soziales Projekt in Basel eingesetzt.
Und so kann ich mir vorstellen, dass es noch viele andere Ideen gibt, die einfach und mit einem konkreten Ziel verwirklicht werden können. Also, liebe Leute, lasst euch etwas einfallen und werdet aktiv!
Eine eindrückliche Ferienerinnerung aus dem finanzschwachen Griechenland im letzten Jahr: Wir (keine Flüchtlinge) wollten die Notfallarztkosten bezahlen-durften aber nicht, denn: für Ausländer ist der Arzt gratis! Wie beschähmend, denkt man an Voten aus der wählerstärksten Partei, wenn es um Flüchtlingshilfe geht…
Das Thema ist emotionsgeladen und fast schon traumarisierend. Es ist in der Tat eine unglaubliche Tragödie die sich seit Jahren, mehrheitlich vom mittleren Osten nach Europa abspielt.
Lieber Matthias Zehnder; wo bleibt der kritische Geist? Die humanitäre Schweiz? Wovon sprechen wir? Von den Tausenden oder Millionen Menschen die wir im zweiten Weltkrieg zurückgewiesen haben – in den sicheren Tod? Schon damals hiess es “ das Boot ist voll“!!
Die humanitäre Schweiz gab es kaum. Es waren immer einzelne Vertreter die den Mut hatten mit einer eigenen Meinung dem Chaos entgegenzutreten. Henri Dunst oder Pestalozzi, oder uns noch näher Paul Grüninger. Letzterer wurde für seinen Einsatz zu Gunsten der Flüchtlinge aus dem Amt gejagt, und Jahrzehnte geächtet und verspottet. Er starb in Armut. Die offizielle Schweiz weigerte sich Jahrzehnte gegen eine Rehabilitierung. Erst 1993 rehabilitierte St.Gallen seinen 1939 entlassenen Bürger!
es gibt noch weitere, ja viele Persönlichkeiten die sich für die Flüchtlinge eingesetzt haben. Ihre Zahl ist gross – doch es waren dennoch immer eine kleine Minderheit die sich gegen den Mainstream durchsetzen musste.
Mit der Fehde gegen das Fremde, Unbekannte wurde schon immer Politik gemacht.
Die Schweiz mit ihrer rechtspopulistischen Partei, die knapp ein Drittel der Stimmbürger begeistert, ist ein klassisches Beispiel. Deren grösste „Schweizerverfechter“ waren ursprünglich Einwanderer.
Diese rechtslastige Geisteshaltung erfasst ganz Europa. Europa ist wieder bedrohlich „braun“ geworden. Hüben und Drüben.
Interessant in diesem Zusammenhang: Zur Zeit läuft die EM. Man nehme sich einmal die Namensliste der aktiven Spieler zur Hand. Alles Personen, die damals als „Jugos“ beschimpft wurden, welche es nur auf unsere Sozialleistungen abgesehen haben.
Die Flüchtlingsfrage wird sehr emotional geführt. Daher sind in dieser Auseinandersetzung auch an den Emotionen gerüttelt! Nach dem alten Muster: „Sie nehmen uns die Arbeit weg, Sie nehmen unsere Studienplätze weg, etc.etc.
Die Lösung der Flüchtlingsfrage ist wohl mit einer Herkulesaufgabe zu vergleichen. Die offizielle Schweiz will weniger Flüchtlinge, reduziert im neuen Budget aber die Auslandshilfe!
Rechenbeispiel. In Europa wohnen ca. 500 Mio Einwohner. Würden also 10 Mio. Flüchtlinge aufgenommen, entspreche dies ca. 2%! Vereinfacht…..? Vielleicht aber es könnte der Ansatz zu einer sachlicheren Diskussion sein.
Die arrogante Antwort, wir könnten nicht alle Flüchtlinge aufnehmen ist auch jetzt wieder das Argument, nichts zu tun resp. wenn möglich die Schotten dicht zu machen.
Mutige Einzelkämpfer braucht unser Land. Mutige Frauen und Männer die in dieser schwierigen Situation sich zu exponieren bereit sind, ohne politisches Kalkül.