Geschichte ist nicht Schicksal? Dann lasst uns eingreifen!
Wäre Adolf Hitler zu verhindern gewesen? Wäre Hitler heute zu verhindern? Auf jeden Fall. Geschichte ist kein unvermeidbares Schicksal. Wir haben unsere Geschichte in der Hand. So sah es der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern. Seine wichtigste These war: Es hätte auch anders herauskommen können – wenn nur jemand die Verantwortung dafür übernommen hätte. Diese Woche ist Fritz Stern neunzigjährig in New York gestorben. Seine Mahnung bleibt bestehen.
1938, als Fritz Stern zwölf Jahre alt war, musste er, weil er Jude war, mit seiner Familie aus Deutschland fliehen. Er wanderte aus nach Amerika, nach New York. Zeit seines Lebens hat ihn eine Frage nicht losgelassen: Wie war das möglich? Wie konnte Deutschland, das Land von Goethe und Beethoven, sich in einen mit bürokratischer Effizienz geplanten Massenmord stürzen? Warum fiel niemand Hitler in den Arm? Wie konnte es so weit kommen?
Stern studierte Geschichte an der Columbia University in New York und arbeitete später als Professor am Institute for Advanced Study in Princeton. Er beschäftigte sich als nunmehr amerikanischer Historiker mit der deutschen Geschichte. Seine Bücher kreisten immer wieder um die ursprüngliche Frage. Etwa: Bethmann Hollweg und der Krieg. Die Grenzen der Verantwortung (1968) oder Der Traum vom Frieden und die Versuchung der Macht. Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert (2006).
In seinen Lebenserinnerungen Fünf Deutschland und ein Leben schreibt Stern: Jahrzehnte der Forschung und Erfahrung haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass die deutschen Wege ins Verderben, einschliesslich des Nationalsozialismus, weder zufällig noch unausweichlich waren. Geschichte, so Stern, ist nicht Schicksal. Wir alle tragen die Verantwortung dafür, wie es herausgekommen ist. Der Nationalsozialismus hatte tiefe Wurzeln, und dennoch hätte man seinen Aufstieg verhindern können. Er selbst sei in eine Welt hineingeboren worden, die sich vor dem Absturz in eine vermeidbare Katastrophe befunden habe. Und ich bin zu der Einsicht gelangt, dass kein Land immun ist gegen die Versuchungen solcher pseudo-religiöser repressiver Bewegungen, wie ihnen Deutschland erlag. Die Zerbrechlichkeit der Freiheit ist die einfachste und tiefste Lehre aus meinem Leben und meiner Arbeit.
Nach seinem Tod diese Woche haben alle grossen Zeitungen im deutschsprachigen Raum Fritz Stern gewürdigt. Sie haben seine Bücher genannt, seine Leistungen aufgezählt, an seine Ehrungen erinnert. Nur wenige haben auch erwähnt, mit welch heftigen Worten Stern in den letzten Monaten seines Lebens vor der Gegenwart gewarnt hatte. An seinem 90. Geburtstag erklärte er gegenüber Deutschlandradio: Ich befürchte, dass wir vor einem neuen Zeitalter von Angst und Illiberalität und neuem autoritären System stehen. Stern war schockiert darüber, wie rasch sich demokratische Länder wie Polen und Ungarn in autoritär regierte Staaten verwandelt haben.
In fast allen europäischen Ländern mischen sich erstarkte rechte bis rechtsradikale Kräfte in die Politik ein. Jüngstes Beispiel ist Österreich, das am Wochenende möglicherweise den FPÖ-Mann Norbert Hofer zum Bundespräsidenten wählt, einen nach aussen konzilianten Mann, der aber stramm rechts aussen politisiert. Dieser Rechtsruck, sagt Stern, habe mit der Angst zu tun, welche die rechtsradikalen Kräfte verbreiten: Die handeln ja mit Angst. Das ist sehr gefährlich. Ich erinnere mich wie so oft an den grossen Franklin Roosevelt, der gesagt hat, das einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Angst. The only thing we have to fear is fear itself.
Wären die Nationalsozialisten zu verhindern gewesen? Fritz Stern war überzeugt davon. Es sieht aber nicht danach aus, als hätte Europa seither dazugelernt. Und auch Amerika nicht. In den letzten Monaten musste Stern erleben, wie sein liberales Amerika sich zusehends einem populistischen Protz namens Donald Trump zuwendet. Stern war überzeugt, dass der Populismus, der in den Vereinigten Staaten um sich greife, mit allgemeiner Verdummung zu tun habe und mit stark antielitären Gefühlen und Gedanken.
Diese Woche hat Barack Obama an der Rutgers University eine seiner letzten Ansprachen zu einer Graduierungsfeier als Präsident gehalten. Er hat die Ansprache für ein paar starke Sätze genutzt, die auf Donald Trump gemünzt waren. Zum Beispiel: In der Politik und im Leben ist Ignoranz nicht erstrebenswert. Es ist nicht cool, nicht zu wissen, wovon ihr sprecht. … Es heisst bloss, dass man nicht weiss, wovon man spricht.
Wenn politische Anführer Verachtung für Fakten ausdrückten, wenn sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden, weil sie Unwahrheiten verbreitet oder Dinge schlicht erfunden haben, und wenn gleichzeitig richtige Experten als elitär verunglimpft werden, dann habe Amerika ein Problem. Das Zurückweisen von Fakten, das Zurückweisen von Vernunft und Wissenschaft, das sei der Pfad zum Niedergang.
In seinem Erinnerungsbuch schreibt Fritz Stern: Leben und Studium haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass die Geschichte ein offener Prozess ist. Es gibt keine Zwangsläufigkeit in der Geschichte. In einer freien Gesellschaft sei die Zukunft offen, so sehr sie auch durch Vorbedingungen eingeengt sein mag. Wenn das so ist, dann wird das bürgerliche Engagement zu einem moralischen und politischen Imperativ.
Wir sind nicht Opfer der Geschichte. Das heisst auch: Wir dürfen nicht einfach zusehen. Wir haben die moralische und die politische Pflicht, uns gegen autoritäre Übergriffe zu wehren und uns für eine freie Gesellschaft, für die Menschenrechte und die Menschenwürde einzusetzen. Das ist die Botschaft von Fritz Stern. Barack Obama verknüpft diese Botschaft mit dem Bildungsimperativ: Ignoranz ist nicht cool. Wir brauchen Experten, wir brauchen Eliten.
Stern und Obama sind Amerikaner – ihre Botschaft sollte aber auch in der Schweiz gehört werden. Auch bei uns sind Anti-Intellektualismus und Anti-Elitarismus hoch im Kurs. Auch bei uns schüren Rechte die diffuse Angst vor dem Fremden, vor Flüchtlingen, vor Zuwanderung. Auch bei uns ist es vom Patriotismus zum Nationalismus ein kleiner Schritt. Wenn die diffuse Angst mächtiger wird als die Vernunft, wenn der Wunsch nach Idylle und Sicherheit grösser wird als die Einsicht, dass die Schweiz nur als offenes und vernetztes Land eine Zukunft hat, dann biegen wir, mit den Worten von Barack Obama, ein in den Pfad des Niedergangs.
Geschichte ist nicht Schicksal, sagte Fritz Stern. Die Zukunft ist nicht vorbestimmt. Es kann anders herauskommen. In seinen historischen Arbeiten hat er dargestellt, wie der deutsche Angriff auf den Liberalismus im 19. Jahrhundert begann und Jahrzehnte später im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt erreichte. Heute erleben wir wieder Angriffe auf Liberalismus und Toleranz. Diesmal müssen wir uns rechtzeitig wehren. Jetzt. Hier. Wir.
7 Kommentare zu "Geschichte ist nicht Schicksal? Dann lasst uns eingreifen!"
Ja gewiss, wir brauchen – zukünftig noch dringender – Eliten, die komplexe Prozesse durchschauen und etwas bewirken können. Wir brauchen aber auch Eliten mit einem hohen Bürgersinn, die nicht nur schauen, was sie für sich gewinnen können, sondern auch dafür sorgen, dass ihre Mitbürger mit weniger Potential immer noch eine ermutigende Perspektive, z. B. nach dem Sprichwort „Handwerk hat goldenen Boden“ haben. Jeder Schulabgänger muss die Gewissheit haben, dass er mit seinen Fähigkeiten, Fleiss und Ausdauer einen Beitrag zum Gedeihen unserer Gesellschaft wird leisten können, der im Normalfall angemessen bezahlt ist. Im Sonderfall muss der Staat aufgrund der in unserer Bundesverfassung verankerten Fürsorgepflicht ein menschenwürdiges Leben gewährleisten können.
Es ist aufschlussreich, dass der geschichtstümelnde Chefredaktor des Herrliberger Verlautbarungsblatts vor Basler Ort die Sternstunde persönlich verstreichen liess, um sie einem Lohnschreiber zu überlassen. Er hätte sich zumindest mit Stephen Frys Politsatire ‚Making History‘ (1996) auseinandersetzen können, wo die Verhinderung von Hitlers Geburt durch eine hormonale Zeitmaschine beschrieben wird, was aber zu einer autoritären USA à la Trump führt: Ein perfektes Grossvater-Paradoxon des Kleindynasten, der lieber über Titanen wie Paul Eisenring leitartikelt.
Wieso muss man zwingend immer Schlüsse ziehen zwischen dem „Früher“ und dem „Heute“. Wieso immer solche Sätze in diesen Wochenkommentaren wie „….Auch bei uns sind Anti-Intellektualismus und Anti-Elitarismus hoch im Kurs. Auch bei uns schüren Rechte die diffuse Angst vor dem Fremden, vor Flüchtlingen, vor Zuwanderung……..“
Waren es früher oft nichtige oder herbeigeredete Probleme, die zu Kriegen führten, waren es „grossmächtige“ Spinner (hüben wie drüben, sprich in West und in Ost), welche Riesenelend anzettelten, waren es früher Weltherrschaftsgelüste oder unverständlicher Hass auf fremde Rassen, Brutalomachos aus heutiges Sicht (Stalin, Hitler usw), ob dem man sich heute nur traurig Kopfschütteln kann.
Das Heute ist nicht mehr das Früher.
Heute hat sich das Blatt gewendet. Waren es früher teils unwürdige Zustände, die den z.B. zu tausenden geflohenen Polen in der Schweiz zugeteilt wurden, (Kellerverliese, feuchte, ausgediente Truppenunterkünfte), welche jene aber trotzdem ohne zu murren überaus dankend annahmen aus Frucht vor Bombenhagel, echter Lebensangst und Inhaftierung in ihrer geliebten Heimat, so ist es heute das pure Gegenteil.
Mit einem der höchsten Ausländeranteile in Europa, mit einer der höchsten Siedlungsdichten (Einwohner pro m2) in Europa, mit einem der sozialsten Asylsysteme, Sozialsysteme in Europa macht die Schweiz mehr als mehr. Die Schweiz ist das einzige Land im EU Raum, das trotz Nichtmitgliedschaft sich noch am konsequentesten an die EU Regeln hält, das Zahlungen pünktlich wenn nicht schon im Voraus an die Europäische Gemeinschaft begleicht, das sich als einziges Land noch an das Schengen System hält, das Fahrprüfungen in diversen Sprachen anbietet, dass 11 Milliarden an Entwicklungshilfe (auch Hilfe vor Ort) jährlich leistet, das aber auch Fahrende nicht verjagt, sondern ihnen sogar noch eine Stimme in Bern finanziert (via BAK, Bundesamt für Kultur), die Schweiz, in deren Haftanstalten die dortigen ausländischen Inhaftierten, welche ca 75% der Insassen ausmachen, königlich behandelt usw. usw…. Sozial, sozialer, Schweiz.
Dies ist nicht a priori schlecht, obwohl, wer die Natur wie ich und viele andere liebt, bemerkt, dass es langsam eng wird in der Schweiz, das heute schon rund 30% unserer hochgehaltenen gelben Wanderwege durch besiedeltes/dichtbesiedeltes Gebiet führen, das die jährlich 80’000 Zugewanderten (Grösse einer Stadt wie Luzern mehr, und dies jährlich) rund 40’000 neue Autos auf unsere Strassen bringen – und man dies – auch auf diesem Blog – doch mal hinterfragen darf, ob das der zukünftigen Schweiz und deren Bewohner wirklich so viel Gutes bringen wird…..
Das dies einigen Einwohnern „etwas zu viel des Guten“ vorkommt, ist doch legitim.
Bei all dem, und die Aufzählung könnte noch ungemein länger gelistet werden (Grenzgänger-Zuvorkommnis, hohe Anzahl ausländischer Gratis Studier-Gäste an unseren Hochschulen usw usw), finde ich es langsam eintönig und auch einseitig, wenn auf diesem Blog fast wöchentlich mantraartig von der „braunen Gefahr“ in der Schweiz gewarnt wird, wenn fast wöchentlich einseitig die SVP und deren Wähler (oft in den Blog-Kommentaren als „dumme Menschen“ dargestellt) an den Pranger gestellt wird, wenn aufgezählt wird, wie verkorkst und verbohrt wir seien, wie die Populisten das Land zu Grunde fahren. Solche Fabulierungen werden auch bei wöchentlicher Wiederholung nicht wahrer und gehören ins Land der Märchen.
Doch durch solche Darstellungen die SVP oder auch andere Gruppierungen zu radikalisieren wollen (in die radikale Ecke darstellen zu wollen) geht nicht auf. Die Schweiz ist kein Frankreich mit Le Pen und Konsorten, die Schweiz ist kein Deutschland mit AfD & Co., schon gar kein Ungarn, Polen und dergleichen.
Die Schweiz ist eine Demokratie mit Parteien, welche gewachsen sind. Mit einer demokratischen FDP, einer demokratischen SP, mit einer demokratischen CVP, auch mit demokratischen Grünen und mit einer demokratischen SVP. Mit demokratischen Bürgern, welche demokratische Vorlieben und Präferenzen für die eine oder die andere Partei haben (haben dürfen, haben sollen). Dies ist gut so, ist doch jede Partei Auffangbecken der jeweiligen Strömung. Die SP der Ihren, die Grünen der Ihren, und z.B. die SVP der Ihren. Reden miteinander, verhandeln, Händeschütteln. Dies mitunter auch ein Grund, weshalb selten bis kein Asylheim in der Schweiz brennt. Drauf können wir stolz sein. Auch ein Verdienst einer SVP, die Leute jener Strömung ernst nimmt und sie so nicht zum Streichholz greifen lässt. Diese Überlegung sollte immer auch mit in Betracht gezogen werden, diese Überlegung ist von manchem Politwissenschaftler schwarz auf weiss bestätigt worden.
Übrigens: Das schätze ich sehr – auch DIESER BLOG ist Demokratie. Wenn auch eine etwas einseitige.
Herr Zweidler, ich würde Ihnen raten, einen eigenen Wochenkommentar ins Leben zu rufen. Ihre Antwort ist jeweils länger als der eigentliche Kommentar.
Dieser fundierte Kommentar verdient einen viel grösseren Leserkreis. Und genau das ist ein Teil des angesprochenen Geschichtsproblems…
Im Grossen wie im Kleinen erfahre und beobachte ich in der Politik zunehmend Gruppierungen, die Macht nach folgendem Motto anstreben: Hauptsache wir haben das Sagen, auch wenn wir substanziell gar nichts zu sagen haben. Ihre Wählerinnen und Wähler gewinnen sie, indem sie ihnen helfen, ihre Ängste vor den Folgen der Globalisierung (Flüchtlings-, Klima-, Wirtschafts- und weitere Krisen) zu verdrängen. Ihre Strategie (Kriegslist): Wir orientieren und organisieren uns so wie damals, als es diese Probleme noch nicht gab, und dann gibt es sie auch heute und in Zukunft nicht. Ihr Programm: Viel Blabla und Brimborium – und nichts tun. Und wer nichts tut, muss auch keine Verantwortung übernehmen für nichts. Dort wo solcherart Gruppierungen die herrschende Mehrheit sind, heisst das Ergebnis: Chaos und Rien-ne-va-plus. Beispiele mit Selbsterfahrungswert: Meine Wohngemeinde Allschwil und das Baselbiet.
Die Frage, ob Hitler heute möglich wäre, scheint mir für Historiker vielleicht interessant zu sein. Die Hitlerfrage birgt aber in der politischen Diskussion die Gefahr, unsere derzeitige Lage allzu vereinfacht mit derjenigen der Dreissigerjahre gleichzusetzen. Die heutigen Probleme gründen zwar auch grossteils in einseitiger Verteilung lebensnotwendiger Güter, haben aber mehrheitlich andere als nationalistische Ursprünge. Die Macht globalisierter Grossunternehmen, technologische Entwicklungen, welche noch vor zwanzig Jahren ins Reich der Träume verbannt wurden und die Rationalisierung der Arbeitswelt, die in naher Zukunft weitere grosse Teile der arbeitenden Bevölkerung „freistellen“ wird, bergen meines Erachtens heute grosse Gefahren. Die fast gänzlich verdrängte Tatsache des globalen Bevölkerungswachstums potenziert die Probleme zusätzlich (vergleiche „Grenzen des Wachstums“ Club of Rome 1968!!). In dieser Szenerie der relativen Verunsicherung breiter Bevölkerungsschichten entsteht eine nostalgische Tendenz des Rückzugs in das kleine, vermeintlich überschaubare nationale Gärtchen. Zweifellos wird dieses Gärtchen von rechten Populisten zunehmend mit Feindbildern beackert und am liebsten mit Stacheldrahtzaun „geschützt“. Die Hitlerfrage verleitet aber leicht dazu, dem Muster der Populisten, der groben Vereinfachung, auf den Leim zu gehen. Ja, jede Gesellschaft muss an ihrer eigenen Geschichte arbeiten, aber an den Ursachen, nicht an den Symptomen.