Fünf Lebensbilder an Stelle eines Wochenkommentars

Publiziert am 14. Oktober 2016 von Matthias Zehnder

Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Herbstpause. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Biografien – also fünf höchst anregende Lebensbilder. Inspirierend sind sie alle, jedes auf seine Weise. Das fünfte Buch hat mich aber richtig begeistert. Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die immer noch aktuell sind:

Wie die Ökonomie zur Religion wurde
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/oekonomisierung/

Warum die Arbeiterschaft rechts wählt, statt links
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/reims/

Nachdenken statt Nachtreten
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/nachdenken/

Vergessen Sie nicht, bei der Lektüre ab und zu auf die Werbung zu klicken. Jeder Klick bringt mir ein paar Rappen. Das ist nicht viel, aber immerhin.

Die Bücher sind, wie immer, bei der Buchhandlung Bider&Tanner in Basel vorrätig. Unter jedem Lesetipp finden Sie den Link zum Online-Bestellbereich von Bider&Tanner, Sie können aber auch einfach in der Buchhandlung nach den Büchern fragen. Sie sind alle vorrätig.

Aber jetzt zu den fünf Lektüretipps.

Die erste Biografie handelt von einem Menschen, den wir in der Schweiz wohl alle kennen – oder besser: zu kennen meinen. Denn in Wirklichkeit war er ganz anders:

Huldrych Zwingli

bio_zwingliAm 31. Oktober 2017 jährt sich zum 500. Mal die Veröffentlichung der 95 Thesen, die Martin Luther, der Überlieferung nach an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg schlug. Entsprechend türmen sich in den Buchhandlungen Bücher und Biografien über Luther. Das Buchangebot über den Schweizer Reformator Ulrich Zwingli nimmt sich demgegenüber sehr bescheiden aus. Umso interessanter ist diese neue Biografie von Franz Rueb über den Zürcher Reformator und Haudegen. Spannend ist das Buch insbesondere deshalb, als man bei der Lektüre so manches Vorurteil über Zwingli revidieren muss. Der Zürcher Pfarrer war keineswegs ein allen Genüssen abholder Asket und Krieger. Er liebte im Gegenteil Musik und kämpfte als Leutpriester im Grossmünster in Zürich für soziale Gerechtigkeit. Ruebs Buch setzt sich vor allem mit dem politischen Zwingli auseinander und rückt ihn als Menschen ins Zentrum. Dieser Mensch tritt handfest aus den Seiten hervor. Der Text ist in viele kurze Kapitel gegliedert und lässt sich gut auch auszugsweise lesen. Das Buch ist nicht elegant geschrieben, es ist kein Ohrenschmaus. Umso ehrlicher wirkt der Zwingli, der einem entgegentritt. Wie er in Glarus Griechisch lernt, Erasmus entdeckt, aber politisch scheitert. Wie er in Zürich die Pest überwindet, sorgsam die Reformation vorbereitet und die Stadt umkrempelt. Zwingli erfindet die Fürsorge und das Sozialwesen auf staatlicher Basis – dabei war er nicht einmal im Rat. Es ist ein spannender, kluger Mann, der einem aus dem Buch von Franz Rueb entgegentritt – bloss schade, dass der Schweizer Zwingli heute so im Schatten von Luther steht.

Franz Rueb: Zwingli. Widerständiger Geist mit politischem Instinkt. Hier + jetzt Verlag, 256 Seiten, 39 Franken; ISBN 978-3-03919-391-2

Das Buch ist hier erhältlich.

Das zweite Lebensbild ist eine Autobiografie, deshalb bleibt darin auch vieles verborgen. Denn das Handwerk dieses Mannes ist das Gehemnis:

John le Carré

bio_lecarreStellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem tiefen Ohrensessel in einem englischen Countryhouse, in der Hand einen steifen Whiskey, Ihnen gegenüber sitzt ein älterer Herr, der aus seinem Leben plaudert. Etwa so fühlt sich dieses Buch an. John le Carré hat keine Autobiografie geschrieben, er erzählt vielmehr Geschichten aus seinem Leben. Und dieses Leben hat es in sich. Schliesslich hat le Carré nicht nur über den britischen Geheimdienst geschrieben, sondern selbst für den Dienst gearbeitet. Was viele seiner Leser nicht wissen dürften: Le Carré hat 1948 und 1949 an der Universität Bern Germanistik studiert, hatte also früh einen Bezug zur Schweiz. 1950 schloss er sich dem Nachrichtendienst der Britischen Armee an. 1952 kehrte er nach England zurück und heuerte beim MI5 an, dem britischen Inlandgeheimdienst. Linke Studenten auszuspionieren, machte ihm aber bald keine Freude mehr, so wechselte er zum Auslandsgeheimdienst MI6, dem berühmten Secret Intelligent Service. Für diesen SIS arbeitete er in Deutschland. Hier entstanden auch die ersten Romane. 1964, nach dem grossen Erfolg von Der Spion, der aus der Kälte kam, quittierte er den Dienst und konzentrierte sich aufs Schreiben – und auf das Leben unter Pseudonym. Jahrelang beschäftigte sich le Carré mit dem Ost-West-Konflikt. In seinen jüngsten Romanen griff er aber auch ganz andere Probleme auf, etwa den internationalen Waffenhandel, die Machenschaften der Pharmaindustrie oder der Furcht vor islamistischem Terror. John le Carré plaudert in seinem Erinnerungsbuch höchst unterhaltend über Erlebnisse und Anekdoten. Vor lauter guter Unterhaltung bemerkt man kaum, dass man zwar viel erfährt über das Übersetzen von Wirklichkeit in Literatur – aber sehr wenig über den Menschen, der sich hinter dem Pseudonym John le Carré verbirgt.

John le Carré: Der Taubentunnel. Geschichten aus meinem Leben. Ullstein, 384 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-550-08073-9

Das Buch ist hier erhältlich.

Die dritte Biografie stellt das Leben einer der stärksten Journalistinnen Europas dar: Sie hat wohl ähnlich viele Fans, wie sie Menschen (vor allem Männer) gegen sich aufbrachte:

Oriana Fallaci

bio_fallaciSie war Journalistin und Schriftstellerin, schrieb für die Londoner Times, Life und die New York Times und veröffentlichte mehrere Bestseller. Mit ihren Büchern und Artikeln löste sie begeisterte Zustimmung aus – und leidenschaftliche Ablehnung. Oriana Fallaci war vor allem sehr unabhängig. Diese Biografie erzählt auf packende und unterhaltende Weise das Leben der Frau aus Florenz. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war Fallaci erst zehn Jahre alt. Dennoch setzte ihr Vater sie als Kurier im Widerstand gegen Mussolini und die Faschisten ein. Weil Fallaci klein und schmächtig war, sah sie auch als Teenager noch wie ein Kind aus und wurde nicht verdächtigt, verbotene Flugblätter oder gar Handgranaten zu schmuggeln. Schon als Kind zeichnete sie sich durch eine Eigenschaft aus, die sie später berühmt machen sollte: Mut. Als sie einmal bei einem Bombenangriff mit ihrem Vater in einen Keller flüchten musste und vor Angst in Tränen ausbrach, erhielt sie von ihrem Vater eine Ohrfeige: Mädchen weinen nicht. Später wurde Fallaci für ihren konfrontativen Interviewstil berühmt. Sie berichtete vom Ungarn-Aufstand in Budapest und aus dem Vietnamkrieg, wo sie mit dem berüchtigten nordvietnamesischen General Giap ein Interview führte. Weltweit bekannt wurde sie mit ihrem Buch Brief an ein nie geborenes Kind, in dem sie sich mit Abtreibung auseinandersetzte. Die Biografie von Cristina deStefano ist sehr lebendig geschrieben und mit vielen Zitaten versetzt. Das Buch liest sich flüssig und spannend – fast vergisst man dabei, dass die Heldin des Buchs tatsächlich gelebt hat. Wirklich ein spannendes Frauenleben.

Cristina deStefano: Oriana Fallaci: Ein Frauenleben. btb, 352 Seiten, 16.50 Franken; ISBN 978-3-442-71416-2

Das Buch ist hier erhältlich.

Die vierte Biografie handelt vom letzten Universalgenie Europas, dem Philosophen, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Grundlage für den Computer entwickelte und mit dessen Entdeckungen die Schüler sich heute noch im Mathematikunterricht abplagen:

Gottfried Wilhelm Leibniz

bio_leibnizAusserhalb von Philosophieseminaren sind die Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz heute kaum mehr bekannt. Jugendliche leiden allenfalls unter der Integralrechnung, die Leibniz entwickelt hat, und unter seinen Theorien von unendlichen Reihen. Der Mann hinter den unbequemen Rechnungen ist aber vergessen. Zu Unrecht, wie Eike Christian Hirsch in seiner fulminanten Biographie beweist. Sein Buch ist kein philosophisches Werk, sondern erzählt packend das Leben des letzten Universalgelehrten. Leibniz war Philosoph, Mathematiker, Diplomat, Historiker und politischer Berater. Er war zu Beginn des 18. Jahrhunderts einer der Wegbereiter der Aufklärung. Dabei hat sich Leibniz weniger einzelnen Disziplinen, als vielmehr den Zusammenhängen gewidmet und so unterschiedliche Dinge erforscht wie das Unbewusste, den Bergbau und die Fiebermessung. Er hat das Dualsystem entwickelt und gilt deshalb als einer der Vordenker des Computers. Er hat Pläne für ein Unterseeboot vorgelegt, eine mechanische Rechenmaschine entwickelt und die Technik von Türschlössern verbessert. Daneben war er vielbeschäftigter Diplomat und politischer Berater und führte, wie Hirsch lebhaft erzählt, einen äusserst spannendes Leben. Er verkehrte mit allem, was im ausgehenden 17. und im beginnenden 18. Jahrhundert Rang und Namen hatte. Seine Leibnizbiographie ist deshalb auch ein episches Zeitgemälde.

Eike Christian Hirsch: Der berühmte Herr Leibniz. Eine Biographie. C.H. Beck Verlag, 659 Seiten, 39.90 Franken; ISBN 978-3-406-69816-3

Das Buch ist hier erhältlich.

Die fünfte Biografie handelt von einem meiner Lieblinge, der in seinen Büchern so begeistert über Naturwissenschaften schreibt, dass man gleich selbst ein Wissenschaftler werden will:

Oliver Sacks

bio_sacksWer eines der Bücher von Oliver Sacks gelesen hat, etwa Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, kennt die Begeisterung, die er ausstrahlen kann. Nach der Lektüre eines solchen Buches will man unbedingt selbst Wissenschaftler werden. Seine Autobiographie strahlt einen ähnlichen Sog aus. Das Buch setzt 1950 ein, Sacks ist 17 Jahre alt. Er liebt Motorräder und die Geschwindigkeit und stellt (zum Entsetzen seiner Mutter) fest, dass er schwul ist. Sein Vater war Arzt, seine Mutter eine der ersten Chirurginnen Englands, seine drei Brüder wurden ebenfalls Mediziner. Quasi wider besseres Wissen studierte Sacks in Oxford ebenfalls Medizin, beschloss dann aber dass in England die Doctores-Sacks-Dichte schon hoch genug sei und nahm eine Forschungsassistent in San Francisco an. In Kalifornien, weit weg von der strengen Heimat, tauchte Sacks so richtig ins Leben ein. Schnelle Motorräder, schneller Sex und viele verschiedene Drogen prägten seine Wochenenden. Unter der Woche bildete er sich zum Neurologen weiter. Weil er wusste, dass das so nicht weitergehen konnte, wechselte er an die Ostküste, ans Albert Einstein College of Medicine in New York, brach mit Drogen und Sex und avancierte zum Professor für Neurologie. In seiner Autobiografie beschreibt er, wie er, ganz gegen den Zeitgeist, sich nicht einzelnen Symptomen, sondern den ganzen Patienten widmen wollte. Er schrieb deshalb ausführliche Fallgeschichten auf – daraus entstanden seine Bücher. Immer wieder ging es dabei um Menschen, die der Normalität abhanden gekommen sind. Wobei Sacks die Patienten so beschreibt, dass man auch ein Tourette-Syndrom, Autismus oder Agnosie als etwas Normales zu betrachten und die Normalität zu hinterfragen beginnt. Faszinierend an dem Buch ist die Art, wie Sacks auf die Welt zugeht: Bis ins hohe Alter hat er seine Neugierde bewahrt und stellt Fragen. Im Zentrum seines Interesses steht das Gehirn, oft das eigene. Das Schöne an dem Buch ist aber: die Neugierde ist ansteckend. Deshalb wirkt die Lektüre von Sacks Autobiographie so belebend.

Oliver Sacks, On the Move. Mein Leben. Rohwolt, 448 Seiten, 16.90 Franken; ISBN 978-3-499-62893-1

Das Buch ist hier erhältlich.

Fünf Biografien

 

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