Fünf Gedankenanstösse
Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Sommerpause. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Sachbücher – also fünf Gedankenanstösse. Mindestens eines davon hätten Sie nicht erwartet.
Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die leider immer noch aktuell sind:
Machen Sie auch Ferien am Meer der Toten?
Über Provinzialität und Beleidigtheit als Zeichen der Schweiz
Donald Trump, Christoph Blocher und der Gurkensalat
Vergessen Sie nicht, bei der Lektüre ab und zu auf die Werbung zu klicken. Jeder Klick bringt mir ein paar Rappen. Das ist nicht viel, aber immerhin.
Die Bücher sind übrigens, wie immer, bei Bider&Tanner in Basel vorrätig.
Aber jetzt zu den Lektüretipps.
Das erste Buch ermöglicht Ihnen eine Zeitreise in die Zeit von Martin Luther. Geschichte in Form eines Zeitreiseführers sozusagen.
Als unser Deutsch erfunden wurde
Wir wissen es alle: Martin Luther hat die Bibel so kongenial auf Deutsch übersetzt, dass sich seine Version unserer Sprache durchsetzte und zum Schriftdeutschen wurde. Aber wie sah die Welt damals aus? Wie lebte Luther? Wie war es für seine Frau Katharina, den Haushalt zu führen? Was gabs zu Essen, wie kleidete sich der Reformator? Bruno Preisendörfer ermöglicht uns mit seinem Buch eine Reise in die Zeit, als die Welt plötzlich rund und gross wurde, weil die Entdecker die Welt umsegelten – und der Mensch winzig klein darin. Wir lernen rechnen mit Meister Adam Ries. Wir begegnen Schweizer Reisläufern, die gegen guten Sold mit jedem kämpfen und im Reich beliebt sind, weil sie als unparteiisch gelten. Wir lernen die zeitgenössischen Handwerker kennen, zum Beispiel den Drahtzieher, der in einer Drahtziehmühle Kupferdrähte produziert. Und wir lernen, wie nahe zur Zeit Luthers Himmel, Hölle und Alltag beieinanderliegen. Es ist ein farbiges Zeitbild, das Bruno Preisendörfer malt. Es riecht – und stinkt manchmal, denn zu Luthers Zeiten pflegten die Leute mit der eigenen Notdurft nicht zimperlich umzugehen. Nach der Lektüre dieses Buches versteht man, warum die Sprache Luthers so kräftig ist – seine Zeit ist nicht in sanften Pastelltönen gemalt. Kurz: eine spannende Zeitreise.
Bruno Preisendörfer: Als unser Deutsch erfunden wurde. Kiepenheuer&Witsch, 496 Seiten, ISBN 978-3-86971-126-3
Das Buch ist hier erhältlich.
Das zweite Buch handelt von dem, was Hans Christoph Binswanger selbst ökosoziale Marktwirtschaft nennt: einer Wirtschaft ohne Scheuklappen.
Die Wirklichkeit als Herausforderung
Hans Christoph Binswanger gilt als Doyen einer ökosozialen Marktwirtschaft. Dieses Buch versammelt zwölf Essays, in denen er dazu auffordert, das eindimensionale, auf Wachstum und Monetäres beschränkten Denken in der Ökonomie aufzugeben. Binswanger lässt sich dabei auch von ausserökonomischen Werten leiten. So basiert der Essay über Gerechtigkeit in der Wirtschaft auf dem Neuen Testament, Goethes Faust ist ihm gleich mehrfach Inspirationsquelle und der Essay über Perspektiven einer humanen Wirtschaft basiert auf Wilhelm Meisters Wanderjahre von Goethe. Durch alle Texte hindurch zieht sich ein Appell: Gerade die Wirtschaft dürfe das Ganze der Wirklichkeit nicht aus den Augen verlieren. Binswangers Buch wünscht man sich auf dem Nachtisch so mancher Politiker und Manager – und natürlich auf dem eigenen.
Hans Christoph Binswanger: Die Wirklichkeit als Herausforderung. Grenzgänge eines Ökonomen. Murmann Verlag, 150 Seiten, ISBN: 978-3867745383
Das Buch ist hier erhältlich.
Das dritte Buch ist wieder eine Zeitreise. Diesmal geht die Reise nicht so weit zurück: Sie führt ins Berlin der 30er Jahre. Genauer: In die Zeit der olympischen Spiele.
Berlin 1936
Im August 1936 räumen die Nazis in Berlin die Juden verboten-Schilder weg. Aus den Lautsprechern klingt Swing statt Marschmusik. Deutschland richtet die Olympiade aus. Für sechzehn Tage ist nicht Adolf Hitler der wichtigste Mann in Berlin, sondern Henri de Baillet-Latour: der sechzigjährige Graf aus Belgien ist der Präsident des Olympischen Komitees. Zum Staatsempfang mit den Nazigrössen Goebbels und Goering erscheint er in grauen Hosen, dunklem Cutaway, Schuhen mit Gamaschen und Zylinder. Goebbels schreibt später in sein Tagebuch: Die Olympianer sehen aus wie Direktoren von Flohzirkussen. Chronologisch und mit grösster Detailversessenheit lässt Oliver Hilmes die Tage der Olympischen Spiele in Berlin wiederauferstehen und mit Ihnen bekannte Männer wie Richard Strauss, der die olympische Hymne komponierte, und Tom Wolfe, der für seine Leser aus Berlin berichtet, aber auch Sportler, die man längst vergessen hat. Hilmes schildert auf farbige Weise ein Berlin, das wir, etwas irritierend, nur von Schwarzweissfotos kennen. Es sind sechzehn Tage des schönen Scheins, des Atemholens vor der erneuten Schreckensherrschaft durch die Nazis. Spannender als jede Sportberichterstattung von heute.
Oliver Hilmes: Berlin 1936. Sechzehn Tage im August. Siedler, 304 Seiten, ISBN 978-3-8275-0059-5
Das Buch ist hier erhältlich.
Das vierte Buch widmet sich wieder der Ökonomie. Genauer: der Gestaltung von Märkten, die ohne Geld funktionieren. Doch, das gibt es.
Wer kriegt was und warum?
2012 haben die beiden amerikanischen Ökonomen Alvin E. Roth und Lloyd S. Shapley für ihre Forschung zum Design von Märkten den Wirtschaftsnobelpreis erhalten. Die beiden Wissenschaftler erforschen, wie Märkte funktionieren, bei denen kein Geld im Spiel ist. Ein Markt ohne Geld – gibt es das überhaupt? Oh ja, sagt Alvin Roth und stellt in diesem Buch gleich eine ganze Reihe solcher Märkte vor. Den Heiratsmarkt zum Beispiel, oder den Markt für Nieren von Lebendspendern. Roth hat in den USA ein System entwickelt, wie Nieren von freiwilligen Spendern ans richtige Ziel kommen. Basierend auf seiner Theorie haben sich bereits mehrere Nierenspenderringe gebildet. Roth erklärt, wie Märkte funktionieren, was es bedeutet, wenn sie unter Verstopfung leiden und wie Märkte gestaltet werden müssen, damit sie funktionieren. Market Design heisst diese junge Wissenschaft. Bei der Lektüre realisiert man: Es gibt viel mehr Märkte, als man meint und es muss keineswegs immer Geld im Spiel sein. Es sind im Gegenteil gerade jene Märkte interessant, die ohne Geld funktionieren. Ein Spannendes Buch, das einem die Augen für Mechanismen öffnet, die jeder aus dem Alltag kennt, aber im Alltag oft nicht erkennt.
Alvin E. Roth: Wer kriegt was und warum? Siedler, ISBN 978-3-8275-0044-1
Das Buch ist hier erhältlich.
Das fünfte Buch schliesslich widmet sich der Entwicklung denkender Maschinen. Zumindest behaupten ihre Entwickler, dass sie denken können. Und genau das macht sie gefährlich. Ein überraschend (und irritierend) aktuelles Buch.
Maschinendämmerung
Anfang Juli wurde ein spezieller Unfall mit einem Tesla-Auto bekannt: Das Elektrofahrzeug fuhr in den USA in einen Lastwagen, der Fahrer starb dabei. Das Spezielle dabei: Das Auto war im Selbstfahrmodus unterwegs. Der Fahrer hat also keinen Selbstunfall gebaut, er ist gestorben, weil der Computer einen Fahrfehler begangen hat. Eigentlich ist die Selbstfahrtechnik nicht dafür gedacht, sie sich selbst zu überlassen. Der Unfall zeigt aber, welchen Diskussionen wir uns heute stellen müssen: Wer ist schuld, wenn ein Computer einen Unfall baut? Um genau solche Fragen besser beantworten zu können, lohnt sich die Lektüre des Buchs Maschinendämmerung von Sicherheitsspezialist Thomas Reid. Er erzählt in seinem Buch nämlich die Geschichte einer der wichtigsten und folgenreichsten Ideen des 20. Jahrhunderts: der Idee der Kybernetik. Das Wort ist von Norbert Wiener erfunden worden. Er bezeichnete damit steuernde Systeme. Thomas Reid geht solchen kybernetischen Systemen nach und zeichnet eine Kulturgeschichte von Cyborgs, dem Cyberspace und von Cybersystemen. Er beginnt dabei mit Wiener in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs und endet in der digital vernetzten Zukunft – die längst Gegenwart ist. Reids Buch hilft, die Faszination und die Gefahr der Kybernetik besser zu verstehen und ist genau das richtige Buch für Menschen, die sich heute über Tesla wundern.
Thomas Rid: Maschinendämmerung. Eine kurze Geschichte der Kybernetik. Propyläen, ISBN 978-3-549-07469-5
Das Buch ist hier erhältlich.
Ein Kommentar zu "Fünf Gedankenanstösse"
J.-M.G. Le Clézio wurde 1940 in Nizza geboren. Sein Roman «Der Krieg» ist 1970 veröffentlicht worden. Er beschreibt eine Welt, die ich schon damals nicht gewollt habe. Jetzt ist sie da. Der Roman von Le Clézio beginnt mit folgendem Satz: „Der Krieg hat begonnen. Niemand weiss mehr, wo oder wie, aber er ist da.“ Es ist nicht mehr ein Krieg um Länder oder um Macht. Es herrscht der permanente Krieg der zivilisatorischen Maschinerie. Er entsteht aus Wahrnehmung und Denken. Niemand kann diesem Krieg entrinnen. Und die letzten beiden Sätze im Roman von Le Clézio: „Diejenigen, die den Frieden sehen werden, sind noch nicht hier, sie sind noch nicht einmal gezeugt. Ich selber bin nicht wirklich sicher, geboren zu sein.“