Immanuel Kant und die Klimakatastrophe

Publiziert am 5. Dezember 2015 von Matthias Zehnder

Was ist das wichtigste Ereignis dieser Woche? Ist es das Geschacher um den zweiten SVP-Bundesrat? Die Scheinwahl, welche die SVP dem Parlament ermöglicht, indem sie ihr eigenes Parteiprogramm über das Wahlrecht des Parlaments setzt? Ist es der Entscheid des Bundesrats, die Zuwanderung aus der EU notfalls auch einseitig mit einer Schutzklausel zu begrenzen, obwohl er damit die Bilateralen und also das wirtschaftliche Wohlergehen der Schweiz aufs Spiel setzt? Oder ist es der Entscheid des Deutschen Bundestags, bis zu 1200 Soldaten in den Syrien-Krieg zu schicken?

Nein, nein und nochmals nein. Das wichtigste Ereignis dieser Woche findet in Paris statt: es ist die Klimakonferenz. Zum ersten Mal stehen die Chancen gut, dass die Weltgemeinschaft konkrete Massnahmen gegen die drohende Klimakatastrophe ergreift. Es ist gleichzeitig die letzte Gelegenheit, die die Weltgemeinschaft hat, das drohende Fanal abzuwenden. Leider findet die Klimakonferenz in Schweizer Medien kaum statt. Hierzulande hofiert man lieber der SVP und ihrer Kandidatenkür für den Bundesrat.

Die Klimakonferenz also. Ich höre Sie jetzt sagen: „Was kann die Schweiz neben all den grossen und mächtigen Ländern schon tun?“ Sie haben natürlich recht: Die Schweiz kann das Klima nicht retten. Aber Sie können es. Ja: Sie. Natürlich nicht Sie alleine, aber auch Sie. Das Prinzip, um das es geht, hat der deutsche Philosoph Immanuel Kant 1785, also vor 230 Jahren, aufgeschrieben. Die Formel heisst „Kategorischer Imperativ“ und lautet im Originaltext: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Man könnte auch sagen: Verhalte dich so, dass sich alle nach dir richten können. Oder etwas salopper gesagt: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.

Immanuel Kant hat natürlich nicht an die Abwendung einer Klimakatastrophe gedacht. Sein Imperativ lässt sich aber sehr gut genau darauf anwenden. Wie sähe die Welt aus, wenn sich alle so verhalten würden wie wir Schweizer? Nun: Dazu würde eine einzige Welt nicht ausreichen. Wenn alle Menschen so viele Ressourcen verbrauchen würden wie die Schweizer, wären dazu 2,82 Planeten nötig. Oder anders gesagt: Der ökologische Fussabdruck der Schweiz ist mehr als viermal so gross wie ihre Biokapazität. Er misst derzeit fünf globale Hektaren pro Kopf. Die Biokapazität unseres Landes beträgt indes bloss 1,2 globale Hektaren pro Kopf. Die Schweiz lebt also ökologisch auf Kosten anderer Länder.

Der Verbrauch fossiler Energie (und damit jener Anteil, der klimarelevant ist) macht 65 Prozent des ökologischen Fussabdrucks aus. Fossile Energien sind damit der wichtigste Teil dieses Fussabdrucks und ihr Anteil ist in den vergangenen Jahrzehnten am stärksten gewachsen. Das sind übrigens keine Propagandazahlen der Grünen oder von Greenpeace, es sind die nüchternen Zahlen des Bundesamts für Statistik. Mit anderen Worten: Wir Schweizer handeln ganz und gar nicht „nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Wir Schweizer verletzen den kategorischen Imperativ.

Natürlich können wir nach Paris schauen und darauf warten, auf was die Staatschefs der Länder sich einigen. Wir können auf die grossen Klimasünder zeigen, auf die USA und auf China zum Beispiel, und darüber klagen, dass die nicht mehr tun fürs Klima. Doch das ist billig. Ich würde uns allen eher empfehlen, Kant zu lesen und bei uns selbst zu beginnen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Diese Woche war öfter von den Menschenrechten die Rede. Natürlich sind SVP-Parlamentarier, welche die Europäische Menschrechtskonvention kündigen möchten, eigentlich nicht in unsere Landesregierung wählbar. Wir haben in den letzten Jahren in der politischen Diskussion den Fokus aber etwas zu sehr auf die Menschenrechte gelegt und dabei die Menschenpflichten vernachlässigt. Wir Menschen haben nicht nur Rechte, wir haben auch Verantwortung. Das InterAction Council, eine Art Club ehemaliger Staatschefs, hat deshalb 1997 den Vereinten Nationen eine „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ vorgelegt. In 19 Artikeln beschreibt die Erklärung die grundlegenden Pflichten des Menschen, zu deren grundlegendster die Achtung der Menschenrechte gehört. Es geht um friedliches Verhalten, um Fairness und Gerechtigkeit. Oder anders gesagt: Die Erklärung möchte die Menschen darauf verpflichten, andere so zu behandeln, wie sie von ihnen behandelt werden wollen – es ist also nichts anderes als der kategorische Imperativ. Diese Erklärung der Menschenpflichten hat nur einen Schönheitsfehler: Sie ist bis heute von den Vereinten Nationen nicht verabschiedet worden. Das soll uns aber nicht daran hindern, uns danach zu verhalten. Oder?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.